Studieren mit ADHS – Interview mit einer Betroffenen

26.10.2024
Mental Health, Campus-News...
Johanna Schönberner

Sonja studiert im Master an der JGU und hat vor 1,5 Jahren ADHS diagnostiziert bekommen. Hier berichtet sie, welche positiven und negativen Seiten die Symptome mit sich bringen und ihren Umgang damit.

Sonja berichtete im Interview, wie es zur Diagnosestellung kam, wie sich ihre Symptome im Alltag auswirken und wie sie mit daraus entstandenen Schwierigkeiten umgegangen ist. Zuletzt erzählt sie noch, was sie gerne früher gewusst hätte.
Nähere Informationen dazu, was ADHS ist, welche Angebote es von der Psychotherapeutischen Beratungsstelle (PBS) in diesem Zusammenhang gibt, und wo es eine Anlaufstelle zur Beantragung eines Nachteilsausgleichs gibt, erfahrt ihr hier.

Wie kam es zu der Diagnose?

„Ich hatte eh schon eine Psychiaterin wegen Depressionen und so und dachte immer - weil sich das seit der Teeniezeit zieht - die Konzentrationsprobleme kommen bestimmt daher. Dann habe ich gemerkt, dass auch in Phasen, in denen es mir psychisch besser ging, ich trotzdem starke Konzentrationsschwierigkeiten hatte. Dann habe ich mich mehr in ADHS eingelesen und damit beschäftigt und habe das dann bei meiner damaligen Therapeutin angesprochen. Die hat mich zur Psychiaterin verwiesen.

Diese Psychiaterin meinte dann, dass man das Verhalten in der Kindheit jetzt nicht mehr genau sagen könnte. Aber von dem, was ich jetzt an Symptomen beschreibe, könnte es schon [ADHS] sein. Und dann schlug sie vor, mal Medikamente auszuprobieren und dann zu schauen, was passiert - ob es anschlägt oder nicht. Und dann hat es angeschlagen.“

Was hat die Diagnose in deinem Leben verändert?

„Es macht in vielen Aspekten viele Dinge leichter, weil ich mir besser erklären kann, warum ich mich in manchen Situationen so verhalte, wie ich mich verhalte. Mir fällt es seit der Diagnose leichter, mir selbst gegenüber Verständnis aufzubringen. Ich habe früher gedacht, dass ich mich einfach besser strukturieren muss und habe die Schuld bei mir gesucht. Und im Prinzip liegt es ja auch an mir, aber es liegt am ADHS. Und das ist nur ein Teil von mir und nicht alles.

Ich habe immer viel geplant und war trotzdem so lost und unstrukturiert. Ich habe tausend Methoden durchprobiert, wie ich mich gut strukturieren kann und irgendwie hat das dann immer zwei Tage funktioniert und dann habe ich die Lust daran verloren.
Jetzt ist es einfacher, weil ich verstanden habe, dass vielleicht manche Methoden nicht funktionieren. Dann gebe ich mir nicht mehr die Schuld, sondern gucke situationsgebunden, welche Methode funktioniert.“

Wie äußern sich die Symptome in deinem Alltag?

„Ich merke in Phasen, in denen ich Praktika mache und die ganze Zeit am Arbeiten bin, dass ich viel Struktur habe, weil die Struktur von außen kommt und das gut funktioniert. Wenn ich aber nicht so viele Univeranstaltungen habe und die Struktur im Außen fehlt, dann selbst zu sagen: “Ich setze mich jetzt hin und mach das.“ ist schwer.
Bei vielen Sachen bin ich schon sehr impulsiv, zum Beispiel bei Konzertbesuchen oder Freizeitsachen und muss dann abwägen zwischen Vernunft und Impulsivität.“

Was sind Aspekte, auf die sich ADHS positiv auswirkt?

„Man kommt dazu, viele Sachen und Techniken auszuprobieren, weil man immer versucht etwas zu finden, was funktioniert. Und das macht mich ein stückweit auch offen dafür, in allen möglichen Bereichen viel auszuprobieren und neben dem Studium viele andere Sachen zu machen. Ich kann mich schnell für Dinge begeistern und mir fallen viele Sachen leicht.
Also ich glaube, ich bin generell – je nachdem mit welchen Leuten ich unterwegs bin - ein relativ redefreudiger Mensch, relativ outgoing und kann das ganz gut. Aber ich habe das Gefühl, dass das nochmal extremer ist, wenn ich die Medikamente nicht nehme. Dass das ADHS also so next level verstärkt.“

Was fällt dir durch ADHS schwerer?

„Schwer fällt mir allein schon das Lernen. Das hat für mich nie so richtig funktioniert, gerade auch, wenn der Stoff über zwei Semester geht.
Auch bei Präsenzvorlesungen erstmal rauszufiltern, was wichtig ist, ist schwer. Bei digitalen [Vorlesungen] geht das ganz gut, da kann man dann auch nochmal zurückspulen.
Gerade solche Vorlesungen, wo wenig Notizen hochgeladen werden von den Dozierenden, sind schon am schwierigsten.
Aber ich habe auch viel mit anderen zusammen gelernt und dann konnte man ein bisschen abgleichen.“

Wie hast du für Klausuren gelernt?

„Ich bin häufiger durch Klausuren gefallen, weil ich mir den Stoff nicht merken konnte. Die ADHS-Diagnose und die Medikamente habe ich erst am Ende vom Bachelor bekommen und da eine Klausur zum dritten Mal geschrieben. Das war die erste Klausur, die ich mit Medikamenten geschrieben habe und der Stoff der Klausur ging über zwei Semester. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass Lernen auch etwas bringen kann und ich Sachen verknüpfen kann.

Dabei ist mir dann zum ersten Mal so richtig aufgefallen, was für einen Impact ADHS während meines Studiums hatte. Denn ich dachte immer, ich hätte nicht genug gelernt, obwohl ich viel Zeit ins Lernen investiert habe. Aber es hat nie etwas gebracht, weil es nie in meinem Kopf hängen geblieben ist. Ich konnte auch nach dem Lernen manchmal nicht sagen, mit was für einem Thema ich mich gerade auseinandergesetzt habe.

Ich denke, vieles im Studium wäre mir einfacher gefallen, wenn ich die Diagnose schon vorher gehabt hätte, und auch die Medikamente, weil ich dann nicht so häufig durchgefallen wäre.“

Wie bist du mit Schwierigkeiten umgegangen?

„Meist Kurse so gewählt, wie sie mir thematisch gefallen. Gerade die zweite Hälfte vom Bachelor war bei uns sehr flexibel. Und dann auch zu sagen: Ich fang das an und wenn ich merke, es ist nichts, dann einfach noch ein Semester zu warten, bis es etwas gibt, was mich eher interessiert.“

Wie geht es dir damit, zu wissen, dass ADHS immer einen Teil von dir ausmachen wird?

„Das ist schon etwas, wovor ich Respekt habe. Einfach auch, weil ich ja aus Erfahrung weiß, wie ich in manchen Situationen ticke und, dass mir manche Sachen schwerer fallen. Aber ich glaube gerade durch die vor 1,5 Jahren gestellte Diagnose und, dass ich das so für mich annehmen kann, macht es das leichter. Ich denke mir, dass das dann irgendwie werden wird.“

Was würdest du Betroffenen zum Studienbeginn mitgeben wollen?

„Dass es unfassbar wichtig ist, auf sich selbst zu achten. Dass sau viele Tipps, die man in irgendwelchen Ratgebern zum Thema Studieren findet, vielleicht einfach nicht funktionieren. Dass man einfach ausprobieren muss, was für einen selbst funktioniert. Dass man irgendwie versucht, sich möglichst viel Struktur zu schaffen, zum Beispiel durch verbindliche Verabredungen mit Lerngruppen oder, dass man sich für die Bib verabredet.
Oder man für die Struktur auch mal ein Seminar mehr belegt, einfach um einen strukturierteren Alltag zu haben.

Dass man es trotzdem schaffen kann. Dass es zwar manchmal echt schwierig und nervenaufreibend ist. Dass man denkt, man sei der größte Versager, weil man nichts hinkriegt. Aber, dass es trotzdem möglich ist und man sich nicht so einen Stress machen muss, wenn es mal länger dauert. Dass es alles schon funktionieren wird und, dass es nicht schlimm ist, länger als die Regelstudienzeit zu brauchen. Man darf sich auch um sich selbst kümmern und dafür ein bisschen das Gas rausnehmen. Das ist etwas, was ich gerne früher gelernt hätte, weil ich mich sehr stark überarbeitet habe am Anfang, um irgendwie mitzuhalten.“

Was würde dir das Studieren erleichtern?

„Es sind unterschiedliche Sachen, die hilfreich wären:
Bei Vorlesungen sollte es verpflichtend sein, dass die Folien zur Verfügung gestellt werden. Denn das hilft sehr.
Oder, dass man in Seminaren den Text auch mal draußen lesen kann, da es dort ruhiger ist.
Bei mir ist gerade das Lernen für Klausuren sehr schwierig gewesen. Da hätte ich mir zum Beispiel für diese Klausuren, die über zwei Semester geschrieben werden gewünscht, dass sowas nicht erlaubt ist. Dass man stattdessen nur über ein Semester schreibt und dafür zwei Klausuren.

Mehr Ansprechpartner für Personen mit ADHS, um das Ganze aufzufangen, wären auch gut, weil es so viele betrifft. Man sollte von Anfang an gesagt bekommen, dass die PBS sich auch um ADHS kümmert.
Generell ist es schwierig, Lösungen zu nennen, weil es ja nicht alle betrifft. Und da eine Lösung zu finden, ist schon schwierig. Es ist sehr individuell, was jede einzelne Person sich für einen Umgang wünscht.“

Was würdest du von anderen Studierenden erwarten?

„Einfach gegenseitig unterstützen, wenn man mal nicht mitkommt. Dass man zum Beispiel die Notizen miteinander austauschen kann. Ich würde sagen, dass es einfach eine generelle Sache im Studium ist, dass man sich gegenseitig unterstützt und es zusammen irgendwie durchsteht, wenn man das möchte.“

Gibt es etwas, was dich dazu noch beschäftigt?

„Dass man früh mit ADHS in Kontakt kommt und merkt, dass man das haben könnte. Sodass man dann bestenfalls, schon zu Anfang des Studiums weiß, dass man ADHS hat und lernt, wie man damit umgeht. Und, dass man besser über Anlaufstellen informiert wird.

Wenn darüber gesprochen wird, wird es häufig auf die Kernsymptome runtergebrochen, beispielsweise Konzentrationsprobleme. Ich denke mir, dass die Leute gar nicht wissen, wie viel mehr noch dahintersteckt. Zum Beispiel Aspekte wie Zeitgefühl oder innere Unruhe. Konzentration ist nicht allgemein, sondern kann sich auch je nach Thema nochmal unterscheiden.
Viele Leute können sich auch nicht vorstellen, wie viel Einfluss ADHS hat und, dass man teilweise auch gar nicht so viel dagegen tun kann, weil es einfach ein Teil von einem ist.“

 

Danke an Sonja für das Interview!

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