Laut den "Empfehlungen für eine zukunftsfähige Ausgestaltung von Studium und Lehre", die der Wissenschaftsrat im April 2022 veröffentlich hat, sollte die Anzahl der Prüfungen an Universitäten reduziert werden. Während aktuell der Fokus auf der bloßen Wissensüberprüfung liegt, sollen zukünftig auch Lernziele wie Urteilsfähigkeit, Methodensicherheit und das Finden kreativer Lösungen berücksichtigt werden. Pro- und Contra-Argumente für Prüfungen an Universitäten gibt es jedenfalls einige.
Der Wissenschaftsrat mit Sitz in Berlin ist das wichtigste politische Beratungsgremium für Bund und Länder im Forschungs- und Hochschulbereich. Er ist etwa zu gleichen Teilen von Wissenschaftler:innen und von Vertreter:innen von Bund und Ländern besetzt. Ein wichtiges Thema im Wissenschaftsrat ist die Effektivität und Effizienz in Wissenschaft und Forschung. Diese sehen die Mitglieder aktuell in Gefahr. Denn: Es wird immer wichtiger, nicht nur Wissen zu reproduzieren, sondern auch in verschiedenen Kontexten anwenden zu können. Aktuell zielen Prüfungsformate jedoch genau auf diese Wissensreproduktion ab, was sogar tiefergehendes Lernen hemmen kann.
Der Prüfungsaufwand sei für Studierende, aber ebenso für Lehrende, seit der im Jahr 1999 beschlossenen Bologna-Reform gestiegen, so der Wirtschaftsrat. Die Reform, die einen einheitlichen europäischen Studienrahmen zum Ziel hat, soll auch das Studium effizienter und schneller gestalten. Dazu wurden unter anderem strengere und straffere Prüfungsordnungen eingeführt und Modulabschlussprüfungen durch mehrere Klausuren für einzelne Modulelemente ersetzt. So müssen sich Studierende oft auf mehrere Klausuren parallel vorbereiten, im Schnitt sechs bis sieben pro Semester. Dadurch hat sich auch der administrative Aufwand für die Hochschulen erhöht, weshalb die Prüfungsorganisation meist mittels spezieller Hochschul-IT-Systeme abgewickelt wird. Da die Umgestaltung dieser IT-Systeme wiederum mit hohem Aufwand verbunden ist, stellt dieses vermeintliche Hilfsmittel laut Wirtschaftsrat jedoch oft eine Hürde dar, wenn es um die Neugestaltung der Prüfungsorganisation geht.
Schon vor 15 Jahren warnten laut Spiegel Uni-Psycholog:innen vor der Mehrbelastung infolge der Bologna-Reform. Viele Studierende leiden unter Depressionen, Burnout und Prüfungsangst. Dabei sei es "ganz fatal […], dass jedes Bisschen abgeprüft werden muss". Im Jahr 2017 gaben ca. drei Viertel der Studierenden an Universitäten an, durch die vielen Prüfungstermine belastet zu sein, und etwa die Hälfte, dass sie an Prüfungsangst leide. Während der Covid-19-Pandemie hat sich die Problematik der seelischen Gesundheit der Studierenden weiter verschärft.
Außer Frage steht, dass die Prüfungen den Lernfortschritt der Studierenden feststellen sollen. Hierbei fordern die Expert:innen des Wissenschaftsrats den Fortschritt zur "Prüfung der selbstständigen Analyse und Anwendung". Wie dies aber konkret aussehen soll, wird nicht genannt; hier sehen sie die Lehrkräfte des Studiengangs in der Verantwortung. Lediglich wird eine größere Abwechslung von verschiedenen Prüfungsformaten gefordert – deren Auswahl wiederum in der Hand der Lehrenden liegen soll. Hinzu kommt, dass kompetenzorientierte Verfahren schwieriger eindeutig zu beurteilen sind, was eine zusätzliche Qualifikation der Prüfenden erfordern könnte. Dass diese oft mit Forschung, Lehre und Drittmittelanträgen schon einer erheblichen Mehrfachbelastung ausgesetzt sind, findet an dieser Stelle keine Beachtung. Ob dies dann durch eine bloße Reduktion der Prüfungsanzahl ausgeglichen werden kann, bleibt fraglich.
Wenig überraschend wurde festgestellt, dass "Bulimie-Lernen" nicht sinnvoll ist. Die Lösungsvorschläge sind leider unkonkret und legen grundlegenderen Handlungsbedarf im Hochschulsystem offen. Wir sind gespannt, ob die Forderungen Wirkung zeigen!
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