Theaterkritik | Dracula

11.03.2021
Freizeit
hb

Die Kulturbranche hat es in der Corona-Pandemie nicht leicht. Die Schaubühne Mainz präsentiert ihre Interpretation von Bram Stokers Roman "Dracula" deshalb im digitalen Zoom-Format.

Regelmäßig verwandelt sich das P1 an der JGU vom Hörsaal bei Tag zur Theaterbühne bei Nacht. Wo zuvor Studierende auf den knarzenden, unbequemen, zum Teil kaputten Sitzreihen ihren Professor:innen mal mehr mal weniger aufmerksam zuhören, folgen Freund:innen des Theaters in den Abendstunden jungen Schauspieler:innen. Doch mit der Corona-Pandemie ist auch dieses Ritual aus der Bahn geworfen worden. Für die Schaubühne Mainz, die dort sonst spielt, ist das allerdings kein Grund zu verzagen – denn ihre Vorstellung von "Dracula" findet ausnahmsweise nicht im P1 statt, sondern zu Hause. Auf Betten und Sofas, mit Wein oder Tee, bei Nacht oder bei Tag.

Als der irische Schriftsteller Bram Stoker 1897 seinen Schauerroman "Dracula" veröffentlichte, steckte das Kino noch in den Kinderschuhen. An das Fernsehen oder gar das Internet war noch nicht zu denken. Doch sein berühmtes Stück wird auch hundert Jahre später und mitten in einer Jahrhundert-Pandemie noch aufgeführt – nun allerdings per Videocall, der auf YouTube jederzeit nachgeschaut und miterlebt werden kann.

Bekannter Stoff im neuen, pandemiebedingten Gewand

Die Geschichte ist in verschiedenen Variationen bekannt. Eine Gruppe von Freund:innen rund um Jonathan Harker und Abraham van Helsing versucht, dem Grafen Dracula, einem transsilvanischen Vampir, das Handwerk zu legen. Während sie im Roman gemeinsam gegen den Vampir vorgehen, tun die Protagonist:innen des Theaterstücks dies jeder für sich aus den eigenen vier Wänden heraus.

Erst zu Beginn der zweiten Hälfte sind mehrere Darsteller:innen gemeinsam auf dem Bildschirm zu sehen und die gemeinsamen Dialoge beginnen. Auch wenn das moderne Setting dazu verleiten würde, so manche Formulierung dabei in die heutige Zeit zu holen, ist dies hier nicht der Fall: Sprachlich hat man sich nach wie vor an der traditionellen Übersetzung ins Deutsche orientiert.

Statt zum Publikum und zueinander sprechen die jungen Schauspieler:innen in ihre Webcam - eine Prozedur, die aus dem Online-Studium bekannt ist und an die sich offensichtlich bereits gewöhnt wurde. Denn auf die schauspielerische Leistung hatte diese Unannehmlichkeit keine Auswirkung.

Er, dessen Gesicht nicht gezeigt werden darf

Einzig der titelgebende Antagonist selbst fällt aus dem Quadratraster der Schauspielkolleg:innen: Denn der schauerliche Graf ist selbst nie im Bild zu sehen, stattdessen ist die Stimme des Darstellers aus dem Off zu hören.

Ersetzt wird der "Mensch" Dracula auf Bildebene durch ein schwarzes Bild oder Zeichnungen, die die animalische Natur des Blutsaugers verdeutlichen sollen. Dazu gehören Bilder eines Wolfes, roter Augen und spitzer Zähne und, wie sollte es anders sein, viel Blut. In Kombination mit der starken stimmlichen Präsenz des Darstellers bleibt dieser Teil des Ensembles am längsten in Erinnerung.

Gefangen und genutzt

Das Bild ist durch die festverankerten Webcams starr und begrenzt. Statt Aktionen zu zeigen, wird davon erzählt. Nur hin und wieder brechen kurze Einspieler heraus, die am Fluss aufgezeichnet wurden, um die Ankunft des Grafen per Schiff vor Ort zu beschreiben.

Außerdem wird die Szenerie durch die Zeichnungen und kurzen Bildstörungen aufgelockert, die die aufgewühlten Emotionen der Figuren, den Tumult und den Kampf verdeutlichen sollen. Das alles sind darstellerische Elemente, die ohne Bühne und "echte" Interaktion nicht möglich sind. Einen Schauer über den Rücken löst eine kurze Sequenz aus, in der Draculas drei Bräute dem:der Zuschauer:in aus der Dunkelheit entgegenlächeln. So nah wie in dieser Aufführung wäre man diesen drei Damen auf der Theaterbühne so wohl nie gekommen. 

Hörbuch- statt Hörsaal-Potenzial

Zugute kam dem Produktionsteam sicherlich die Schreibweise der Vorlage als Briefroman, in dem die Handlung in Briefen oder Tagebucheinträgen der Figuren geschildert wird. An diesem Punkt zeigt sich aber auch die größte Schwäche der Produktion, die gleichzeitig auch ihre größte Stärke ausmacht: Denn wo auf Bildebene noch zu wenig passiert, um die Aufmerksamkeit der Zuschauenden durchgehend zu fesseln, passiert auf Tonebene sehr viel. Die eigentliche Handlung entfaltet sich nur im Monolog und Dialog.

Dabei fesselt die klare, natürliche Sprechweise der Darsteller:innen, die die Gefühlslage jeder einzelnen Figur nicht überspitzt an das Publikum vermittelt. Dank des gezielten Einsatzes von atmosphärischer, unheilvoller Musik könnte man aus der Aufnahme ein sehr gutes Hörspiel machen.

Und vielleicht wäre das auch die bessere Entscheidung gewesen. Denn die reine Tonebene könnte die Fantasie der Zuschauenden eher dazu anregen, individuelle Bilder der erzählten Geschichte vor dem geistigen Auge zu sehen und so noch tiefer in das Stück einzutauchen. Die Erzählungen der Schauspieler:innen tragen deutlich mehr dazu bei als der viereckige Rahmen, in dem sie sich nur begrenzt bewegen können.

Dennoch gehören die Experimentierfreude und die Arbeit, die in das Projekt gesteckt wurde, gewürdigt. Für nach Kultur dürstende Studierende oder Fans des Originalstoffs ist auch die Neuauflage ein Muss. Zu sehen gibt es diese besondere Aufführung von Dracula auf dem YouTube-Kanal der Schaubühne Mainz. 

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