Reportage | Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit die uns was gibt

11.06.2015
Freizeit
fm

Kürzlich fanden die Wahlen in der Türkei statt, zum ersten Mal wurde eine prokurdische Partei ins Parlament gewählt. Als Wahlbeobachterin konnte die Mainzer Studentin Filiz direkte Zeugin dieser historischen Wende werden.

 

Trotz stressigem Unialltag, Arbeit und Freizeit genießen, nehmen sich viele Studierende Zeit, um etwas Gutes in ihrem und für ihr Umfeld zu tun. Das Ehrenamt: eine Tätigkeit, die freiwillig, gemeinwohlorientiert und unentgeltlich erfolgt. Ehrenamtlich engagieren sich bei uns an der JGU viele Studierende. Ich habe mich dazu bereit erklärt als Wahlbeobachterin in die Türkei zu fliegen.

Aufruf zur Wahlbeobachtung

Am 7. Juni 2015 fanden in der Türkei Parlamentswahlen statt, zu denen erstmals mit der Demokratischen Partei der Völker HDP (Halkların Demokratik Partisi) eine Partei antrat, die den Anspruch hatte, alle in der Türkei verleugneten und diskriminierten gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren. In der Vergangenheit kam es in der Türkei zu Wahlmanipulation und -betrug, sodass von demokratischen Wahlen nach den Grundsätzen der freien, geheimen und gleichen Wahlen nicht die Rede sein konnte.

Um den aus der Vergangenheit aufgetretenen Problemen vorbeugen zu können, startete die HDP den Aufruf nach freiwilligen Wahlbeobachtern. Frei nach dem Motto „Zeit, die wir uns nehmen, ist Zeit die uns was gibt“, schloss ich mich dem Aufruf an, um ehrenamtlich als Wahlbeobachterin die Parlamentswahlen der Türkei zu observieren. Unsere Aufgabe bestand darin, Versuche von Wahlmanipulation und ähnlichem zu dokumentieren und an die Öffentlichkeit zu bringen, so dass im Falle von Wahlmanipulation gerichtlich dagegen vorgegangen werde konnte.

Vier Menschen kamen ums Leben, 416 in Krankenhäuser

Am 5. Juni nahm ich an der letzten großen Wahlkampfkundgebung der HDP in der Stadt Diyarbakir teil, in der zu 95 Prozent Menschen kurdischer Herkunft leben. An der Kundgebung nahmen meiner Einschätzungen nach etwa eine Million Menschen teil. Die Menschen waren voller Euphorie und begleiteten die Kundgebung mit Gesang, Tänzen und der Parole „Wir sind die HDP, wir wollen ins Parlament“.

Gegen 17 Uhr kam es zu einem explosionsartigen Knall, etwa fünf Minuten später kam es zu einem zweiten Knall. Zwei Bomben sind inmitten der Menschenmenge explodiert. Rauch quoll hoch und ein Geruch von verbrannter Menschenhaut zog sich über den Platz. Die Menschen organisierten sich überraschend schnell und bildeten einen Korridor, so dass die Verletzten aus dem Platz herausgetragen werden konnten.

Die Verletzten wurden mit Privatautos in die Krankenhäuser gefahren, denn der Ambulanz war es in der ersten viertel Stunde nicht möglich, in das Gelände der Kundgebung hineinzufahren, da die Polizeipanzer damit beschäftigt waren Tränengas in die Menschenmenge zu sprühen und dadurch die Ausfahrtswege blockierten. Ein Anblick den ich nie vergessen werde. Vier Menschen kamen bei dem Anschlag ums Leben, 416 Menschen werden noch in verschiedenen Krankenhäusern behandelt, davon haben zwölf Menschen ihre Beine verloren und weitere 22 Menschen befinden sich auf der Intensivstation.

Der Wahltag

Am morgen des 7. Juni begannen die Parlamentswahlen. Ich war gemeinsam mit zwei weiteren Wahlbeobachtern in dem Kreis Ahlat der Region Bitlis für die Wahlbeobachtung zuständig. In den Wahllokalen, die sich in den Dörfern des Kreises Ahlat befanden, gab es massive Militärpräsenz in Form von Gendarmarie Einheiten und Dorfschützern (von der Regierung ausgebildeter, bezahlter und bewaffneter kurdischer Kämpfer eines paramilitärischen Verbandes).

Durch die Militärpräsenz wurde versucht, psychologischen Druck auf die Bevölkerung auszuüben, mit dem Ziel, dass sie sich genötigt fühlen, der Partei ihre Stimme zu geben, die vom Militär vorgesehen wurde. Durch unsere Anwesenheit konnten wir dem etwas entgegen wirken.

So kam es beispielsweise dazu, dass sich Dorfschützer aus den Wahllokalen entfernten, sobald sie uns gesehen haben. In einem der Wahllokale im Zentrum von Ahlat wurde angedeutet, dass der Wahlvorsitzende versucht habe den Wählern anzudeuten, wen sie zu wählen haben.

Eine Historische Wende

Die Parlamentswahlen des Jahres 2015 zeichnen eine historische Wende in der Türkei. Zum einen kann die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) nach 13 Jahren nicht mehr die absolute Mehrheit im Parlament stellen und muss sich einer Koalition öffnen. Zum anderen wurde die HDP mit 13,8 Prozent ins Parlament gewählt, somit zieht mit ihr zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik eine prokurdische Partei ins Parlament ein.

Diesen historischen Moment konnte ich durch meine ehrenamtliche Tätigkeit als Wahlbeobachterin miterleben. Diese Zeit hat mich vieles schätzen gelehrt, zudem habe ich durch diese Erfahrungen ein stärkeres Bewusstsein über unsere europäischen Lebensverhältnisse gewonnen.

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