Regt ein wissenschaftliches Studium zum kritischen Denken an?

26.11.2022
Studium, Campus-News
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Ein Universitäts-Studium sollte zu kritischem sowie eigenständigem Denken befähigen und Student:innen auf die zukünftige Arbeitswelt vorbereiten. Wie sieht das in der Realität aus?

Optimistischer Weise wird davon ausgegangen, dass Studierende an der Universität lernen Sachverhalten auf den Grund zu gehen, diese in den jeweiligen Kontext einzuordnen und im besten Falle kritisch zu hinterfragen. Diese Fähigkeiten sollten den späteren Einstieg in die Berufswelt erleichtern. So sieht jedenfalls die ideale Vorstellung von Kompetenzvermittlung durch höhere Bildung aus. Eine international durchgeführte Studie liefert jedoch das genaue Gegenteil zu dieser Idealvorstellung. 
 
Am 30. August 2022 veröffentlichte die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) eine Studie mit dem Namen „Does Higher Education Teach Students to Think Critically?“, die sich mit der Thematik rund um die Vermittlung wichtiger Kompetenzen, insbesondere der Fähigkeit des kritischen Denkens, an Universitäten auseinandersetzte. 

Das Hauptergebnis der Studie 

Die Studie der OCED kommt zu dem Ergebnis, dass eine enorme Lücke zwischen den, durch einen Universitäts-Abschluss erworbenen Qualifikationen, und den Fähigkeiten bestünde, die junge Menschen in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts benötigen würden. Hierzu zählt die OECD insbesondere Kompetenzen zur Problemlösung, Kommunikation, Kreativität und kritischem Denken. Zwar ließe sich im Verlauf des Studiums eine Verbesserung im kritischen Denken erkennen, jedoch sei diese - laut den Autor:innen der Studie - „geringer, als man es erwarten könnte“.

Wie wurde die Studie erhoben?

In den Jahren 2016 bis 2021 wurden in sechs Ländern (USA, Großbritannien, Italien, Mexiko, Chile und Finnland) ca. 120.000 Student:innen anhand des CLA+ (Causal Layerd Analysis) Verfahrens, auf deutsch so viel wie „kausale Schichtanalyse“, überprüft. Hierbei mussten sie komplexe schriftliche Aufgaben lösen.  

Weitere Ergebnisse der Studie 

Personaler:innen und die Wirtschaft seien häufig nicht länger davon überzeugt, dass die jungen Arbeitskräfte diese wichtigen Kompetenzen durch ihren Universitätsabschluss vermittelt bekommen. Somit entstünde eine enorme Diskrepanz zwischen den durch höhere Bildung vermittelten und von Wirtschaft sowie sozialer Realität geforderten Fähigkeiten. Laut OCED stelle dies die Vertrauenswürdigkeit höherer Bildungseinrichtungen in Frage. 

Inwieweit die Studierenden zu kritischem Denken befähigt sind und wie stark diese Fähigkeit ausgeprägt ist, hänge auch von der genauen Fachrichtung ab. So zeigten Studierende der Wirtschafts- und Agrarwissenschaften besonders niedrige Kompetenzen. In Studiengängen der Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften seien diese dahingegen ausgesprochen hoch. Auch der Bildungsstand der Eltern habe enormen Einfluss auf die Testergebnisse der Student:innen. So schnitten Studierende mit höher gebildeten Eltern bei den Überprüfungen deutlich besser ab. 

Zu beachten ist jedoch, dass Deutschland in der Studie keine Berücksichtigung findet. Es kann demzufolge nicht mit Gewissheit gesagt werden, dass die Ergebnisse auch auf die deutsche Universitätslandschaft Anwendung finden kann. 

Was sagen Dozent:innen der JGU?

Auf Anfrage von campus-mainz.net sagte Dr. Leonard Reinecke, Professor für Medienwirkung und Medienpsychologie am Institut für Publizistik, dass die Frage nach einer möglichen Diskrepanz zwischen den durch das Studium vermittelten und von der „sozialen Realität“ geforderten Fähigkeiten „in ihrer Pauschalität“ schwer zu beantworten sei. Wenn man die „soziale Realität“ als den beruflichen Kontext verstünde, so ergebe sich eine Diskrepanz aus dem Anspruch des Instituts, die Studierenden zu „flexiblen Generalisten mit einem breiten Spektrum an Fachwissen und sozialwissenschaftlichen Kompetenzen“ auszubilden, sowie aus den „spezifischen Anforderungen eines konkreten Berufs“.

Dr. Reinicke denke aber, „dass sich die allermeisten Arbeitgeber:innen der Unterschiede des universitären Ausbildungskonzept im Vergleich zu stärker berufsorientierten Angeboten wie der klassischen Berufsausbildung oder einem FH-Studium“ bewusst seien. Eine natürliche Konsequenz hieraus sei, dass damit mehr „learning on the job“ verbunden sei. Dies würde aber aus seiner Sicht von vielen Arbeitgebern angesichts der vielfältigen Stärken von Universitätsabsolvent:innen, „z.B. ihre höhere Eigenständigkeit, ihre flexible Einsetzbarkeit und auch ihren kritisch-analytischen Fähigkeiten“, gerne in Kauf genommen. 

Kritisches Denken in der Kommunikationswissenschaft 

Gerade in der Auseinandersetzung mit Medien und Kommunikation würden kritisches Denken und das Hinterfragen der individuellen und gesellschaftlichen Folgen von medialen und technologischen Interventionen einen erheblichen Raum im Studium einnehmen. Als Fach sei die Kommunikations-wissenschaft mit ständigen Veränderungen der Medienlandschaft und der Mediennutzung konfrontiert. Gleichzeitig würden die vermeintlichen negativen Folgen der Mediennutzung („Killerspiele“, „Smartphone-Sucht“, „Digitale Demenz“) im öffentlichen Diskurs häufig sehr „alarmistisch und polarisierend“ diskutiert. 

In den Bachelor- und Masterstudiengängen des Instituts für Publizistik seien die Studierenden daher immer wieder mit der Aufgabe konfrontiert, bestehende Befunde und Theorien auf neue mediale Phänomene anzuwenden und die verständlichen öffentlichen Sorgen und mediale Veränderungen und ihre Konsequenzen kritisch und auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz zu hinterfragen. Aus Reineckes Sicht seien dies sehr gute Voraussetzungen für die Entwicklung und Schärfung der Fähigkeit zum kritischen Denken und zum flexiblen Problemlösen. 

Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt

Auf die Frage, ob er der Meinung sei, dass die Studierenden des Fachbereichs Publizistik, die von Arbeitsmarkt und Wirtschaft geforderten Kompetenzen vermittelt bekommen, antwortete Dr. Reinecke, dass die Aufgabe universitärer Studiengänge in den Sozialwissenschaften nicht sei, die Studierenden für einen spezifischen Beruf auszubilden. Dies liege insbesondere an der Vielfalt der beruflichen Möglichkeiten. 

Stattdessen würden die Studierenden mit fundiertem Faktenwissen zu den Strukturen, Funktionen und Effekten von Medien und Kommunikation ausgestattet werden und ein flexibles Analyseinstrumentarium aus kommunikationswissenschaftlichen Theorien und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden bekommen. Dies ermögliche eine Vielzahl von Professionen und beruflichen Funktionen. Am Arbeitsmarkt seien die Absolvent:innen daher in verschiedenen Branchen und Bereichen sehr gefragt. 

Fazit

Abschließend lässt sich festhalten, dass ein (sozial)wissenschaftliches Studium, laut der Meinung Leonard Reineckes, zu kritischem Denken anregt. Jedoch scheint der Grad, inwieweit der/die Einzelne hierzu angeregt wird, durch die genaue Studienrichtung und den Bildungsgrad der Eltern beeinflusst zu werden. 

Es bleibt fraglich, inwieweit die vermittelten Kompetenzen für die spätere Orientierung auf dem Arbeitsmarkt und die Berufswelt von Nutzen sein können. Allerdings ist dies ebenfalls von der expliziten Studienrichtung abhängig. Zudem bleibt, wie bereits erwähnt, festzuhalten, dass nicht sicher gesagt werden kann, ob die Ergebnisse der Studie auch auf Deutschland Anwendung finden können. 

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