Porträt | Von Forschung, Fehlern und Freiheit

19.03.2020
Studium, Arbeit
jsc

Schon mit 27 Jahren wurde Lisa Hartung 2019 Mathematikprofessorin an der JGU Mainz. Im Porträt spricht sie über eigene Fehler, unbekannte Seiten der Professur und eine aufgebrochene Tür.

Der Weg zu Prof. Lisa Hartungs Büro im obersten Stock des Instituts für Mathematik der JGU ist gesäumt von zahlreichen Porträts. Sie sind Teil der Dauerausstellung "Women of Mathematics and Beyond", die besonders erfolgreiche Mathematikerinnen und Physikerinnen vorstellt. Auch Prof. Hartung ist keine gewöhnliche Mathematikerin: Bereits im Alter von 27 Jahren wurde sie im Januar 2019 Juniorprofessorin für Mathematik an der Uni Mainz. Sieben Monate später stieg sie zur Professorin auf. Besonders aktiv ist sie dabei in der Arbeitsgruppe Stochastik, einem von 14 Bereichen am Institut für Mathematik.

Vorlesungssaal statt Klassenzimmer

Dass sie schon so früh den höchsten akademischen Titel erlangt hat, liegt daran, dass sie bereits in der zehnten Klasse ihr Mathematikstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn begann – im Rahmen eines "Schülerstudiums". Doch wieso bewegte sie sich zeitgleich in diesen beiden Welten? "Mir war ehrlich gesagt in der Schule einfach total langweilig und mir wurde immer langweiliger. Ich fand es einfach alles nicht so spannend und dann bin ich wirklich in so ein Loch gefallen. Und dann wurde das immer schlimmer, immer uninteressanter, in die Schule zu gehen." Die Idee des Schülerstudiums wurde ursprünglich von Hartungs Schulleiter über ihre Mutter an sie herangetragen und trug schließlich Früchte, wie sie berichtet: "Wenn man eine Sache hat, die einem wirklich, wirklich Spaß macht, dann ist man auch viel motivierter, andere Dinge zu tun. Und dann war ich auch in der Schule wieder viel interessierter, weil ich etwas zu tun hatte, was mir Spaß gemacht hat, was mich ausgelastet hat."

Diese Auslastung entstand dadurch, dass sie zwar weniger Veranstaltungen für ihr Studium besuchte als Vollzeitstudierende, aber an diesen dennoch regulär teilnahm – inklusive (Modul-)Prüfungen. Das wiederum bedeutete: Neben dem Schulunterricht mussten die Univeranstaltungen nachbereitet werden und neben den Klassenarbeiten standen auch noch Uniklausuren an. Unterstützung erhielt sie zwar von ihren Mitschüler:innen und deren Mitschriften aus dem Schulunterricht, an dem sie nicht mehr regulär teilnehmen konnte, doch unterm Strich hieß es laut Hartung stets: "Man muss quasi selber dafür sorgen, dass man das, was man in der Schule verpasst, nachholt." Empfehlen würde Prof. Hartung das "Frühstudium" schon, allerdings nur denjenigen, die sich tatsächlich selbst für ein Studienfach interessieren und "mit den Schulnoten keine Probleme haben."

Nachdem sie 2009 ihr Abitur bestanden und das Vordiplom in Mathematik bereits in der Tasche hatte, setzte sie die Doppelbelastung fort: Nun arbeitete sie parallel zu ihrem Diplom auch an einem Bachelor of Science in Wirtschaftswissenschaften. Zwar erzielte sie ihren Bachelor in Wirtschaftswissenschaften im Sommer 2011 und damit früher als das Mathematikdiplom im Februar 2012, allerdings sah sie ihre persönliche Zukunft eher nicht im Wirtschaftsbereich: "In Wirtschaft ist das Augenmerk weniger, dass man jemanden so ausbildet, dass er am Ende gut forschen kann. Es ist einfach eine ganz andere Fächerkultur. Ich konnte auch mit meinen Mathekommilitonen viel mehr anfangen als mit meinen Wirtschaftskommilitonen."

Facettenreiche Arbeit mit verschiedenen Altersgruppen

Auch als Mathematikerin könnte sie zwar relativ hürdenfrei in zahlreichen Bereichen der freien Wirtschaft arbeiten. Sie entschied sich jedoch bewusst dafür, an der Universität zu bleiben, weil sie dort die entspannte, selbstbestimmte Arbeitsatmosphäre und den vielseitigen Alltag schätzt: "Man unterrichtet so viel, dass es einem noch Freude bereitet. Man macht so viel Forschung, dass es einem auch noch Freude bereitet, und ärgert sich gleichzeitig darüber, dass es so viel Administration gibt, die einem die Zeit wieder wegnehmen möchte. Gleichzeitig hat man aber auch noch die Freiheit, sich selbst neue Sachen durchzulesen und anzueignen. […] Man arbeitet viel, aber sehr selbstbestimmt." Früher aufzuhören, weil sie früher angefangen hat als ihre Kolleg:innen, kann sie sich daher auch nicht vorstellen.

Besonders die insgesamt lockeren und hilfsbereiten Kolleg:innen hat Prof. Hartung ins Herz geschlossen: "Man muss sich nicht den Anzug anziehen, man muss nicht 10.000 Formalitäten berücksichtigen, sondern man redet locker miteinander. […] Wenn wir auf eine Konferenz fahren, ist das eher so, als würde man sich mit einem Haufen Freunde treffen. Dann geht man halt abends mal ein Bierchen trinken und wir verstehen uns alle eigentlich ganz gut."

Dieses herzliche Verhältnis zeigt sich aber auch im Büroalltag – etwa, als ihr Kollege Prof. Duco van Straten, ein älterer Herr mit Vollbart, Halbglatze und runder Brille, zur "Raumkontrolle" hereinkommt. "Ist alles gut? Sind Sie zufrieden mit Ihrem Arbeitsplatz?", fragt er, sie bejaht und lacht schüchtern, bevor sie weiter aus ihrem Leben erzählt.

Die Dozierenden tauschen sich aber ebenfalls über verschiedenste, auch fachfremde Forschungsergebnisse aus – davon zeugt auch die Skizze eines Neutronenmodells auf der Tafel im Büro der Mathematikprofessorin. Sie lerne zum Beispiel viel lieber von anderen Leuten als von einem Buch, so Prof. Hartung.

Auch das wurde schon in ihrer Jugend sichtbar:Über viele Jahre traf sie sich als Schülerin am Wochenende im Rahmen des Projekts "Jugend trainiert Mathematik" mit Gleichgesinnten, um gemeinsam Aufgaben zu lösen und von älteren Schüler:innen und Studierenden zu lernen. Das erleichterte ihr anfangs auch den Übergang ins Schülerstudium. Viele derer, die sie damals dort unterrichtet hatten, traf sie auf dem Campus wieder: diesmal als Dozierende, die wieder vor ihr standen.

Mittlerweile unterrichtet sie selbst die Schüler:innen des Trainingszirkels und freut sich sehr über deren ungebrochene Begeisterung: "Die haben noch keine Zeit gehabt, mitzukriegen, dass es auch langweilige Dinge in der Mathematik gibt."

Besonders im Vergleich zu den Studierenden, die sie derzeit betreut, ist sie sich der vielen Freiräume im Umgang mit den Schüler:innen bewusst, macht aber nach wie vor beides gern. Der Trainingszirkel lässt Platz für Spaß, er muss keinem festen, übergreifenden Konzept folgen. Am Ende erwartet die Jugendlichen auch keine verpflichtende Prüfung wie die Studierenden, die eher Verantwortung übernehmen müssen: "In der Uni wird von vorneweg vorgegeben: So hoch muss man springen. So hoch muss man springen, um folgende Note zu bekommen oder um erfolgreich an der Veranstaltung teilzunehmen. Dann ist es ein bisschen mehr Aufgabe des Studenten, dahin zu kommen."

Höhere Anforderungen in den USA

Eher unter Druck stünden dabei die Studierenden an der New York University, erzählt Prof. Hartung. An dieser unterrichtete sie zwischen ihrer Promotion in Bonn und ihrer Professur in Mainz für drei Jahre am Courant Institute lineare Algebra, Statistik und Stochastik. Die Veranstaltungen dort seien im Vergleich zwar kleiner und damit persönlicher, aber dort würden auch mehr Leistungen benotet als in Deutschland. Aus der Vielzahl der Prüfungen, die alle für die Abschlussnote relevant sind, entstehe schließlich auch ein Einzelkämpfergeist, den sie kritisch sieht: "Wenn man mal feststeckt, ist es ganz gut, wenn man seine drei Freunde um einen herum auch noch mal fragen kann, ob man zusammen dran arbeiten kann. Und es ist glaub ich ganz gut, wenn das System das unterstützt."

Als zusätzliche Belastung kämen für Studierende in den USA noch die hohen Studiengebühren hinzu, die gerade in New York von hohen Lebenshaltungskosten begleitet würden. "Ein Jahr Studienzeitverlängerung ist auch gleichzeitig eine Riesenstange Geld", so erklärt Prof. Hartung deren hohen Leistungs- und Zeitdruck. Durch die hohen tuition fees würden Studierende aber auch bessere Noten und mehr Entgegenkommen von den Dozierenden erwarten, etwa in für die Dozierenden verpflichtenden, wöchentlichen Sprechstunden.

Anders als in Deutschland bilden speziell ausgebildete Mentor:innen in den USA eine Art Bindeglied zwischen Dozierenden und Studierenden. Dabei stehen sie etwa den Studierenden bei administrativen, aber auch bei psychischen Problemen zur Seite. Prof. Hartung findet so ein fest implementiertes System mit geschulten Helfer:innen als Anlaufstelle für beide Seiten gut. Bereits in ihrem ersten Semester hatte sie damit zu tun, als eine ihrer Studentinnen immer häufiger fehlte, weil sie – wie sich später herausstellte – schwer psychisch erkrankt war und sich in ihrem Wohnheimszimmer eingeschlossen hatte: "Da hab ich dann diese Unistellen kontaktiert, das geht durch ein System durch und die haben dann die Tür von ihr aufgebrochen. Aber mit sowas möchte ich näher als das wirklich nicht konfrontiert sein." Immerhin habe sie keine ärztlich-medizinische oder psychologische Ausbildung, die in solchen Fällen nötig sei.

Habe Mut, deine Fehler zuzugeben.

Fernab solcher extremen Situationen sei sie durch ihr Engagement bei "Jugend trainiert Mathematik" seit Langem gewohnt, Gleichaltrigen etwas zu erklären. Dadurch ergeben sich für sie auch keine Probleme daraus, dass ihre Studierenden meist nur wenige Jahre jünger sind als sie selbst. Auch umgekehrt scheint das Alter keine Rolle zu spielen, so Hartung, aber aneinander gewöhnen müsse man sich trotzdem: "Anders behandelt wird man nicht. Ich bin ja neu hier, das heißt, die müssen noch rausfinden, wie streng ich irgendwelche Regeln auslege oder wie Klausuren aussehen."

Jedoch blickt sie mit anderen Augen auf ihren Beruf, seit sie selbst vorne steht: "Ich hab mich früher immer geärgert, dass mein Professor sich an der Tafel verrechnet hat. Mist, es stimmt wirklich, an so einer großen Tafel kann man auch nicht mehr zwei Zahlen addieren, wenn man vorher nicht drüber nachgedacht hat, einfach weil man’s nicht sieht."

Besonders vehement wehrt sie sich dabei auch gegen die Forderung an Dozierende, keinerlei Fehler vor ihren Studierenden zugeben zu dürfen: "Ich rede im Semester 15 Wochen lang zwei Mal die Woche 90 Minuten mit diesen Studenten. Es wäre ja ein Wunder, wenn ich nicht mal fünf Minuten Quatsch rede. Das ist ja auch was Menschliches und ich find das auch nicht schlimm. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man das absolut vermeiden möchte. Studenten merken das ja auch, wenn man versucht, sich da wieder rauszudrehen und eigentlich will man aber nur sagen, dass man gerade Quatsch geredet hat." Das allwissende, produktive Image von Professor:innen täusche zudem oft darüber hinweg, dass sie in ihrer eigenen Forschung häufig nur schwer weiterkommen.

Mehr Mut zur eigenen Fehlbarkeit – das wünscht sie sich auch von den Studierenden, die etwa in den Seminaren eher selten vor Dozierenden zugeben, dass ihnen manche Aufgaben Probleme bereiten. Das liege auch daran, dass es in der Mathematik wenig Interpretationsspielraum bei den Ergebnissen gebe. "Es ist schwierig, den Leuten zu erklären, dass es manchmal besser ist, was nicht Perfektes zu machen, sich korrigieren zu lassen und ein gutes Feedback zu bekommen, als so lange zu warten, bis sie vielleicht mal irgendwas haben, was dann perfekt ist", so Prof. Hartung selbstkritisch. Denn auch sie habe in ihrer eigenen Studienzeit eher zu denjenigen gezählt, die alleine Aufgaben lösen wollten und sich nicht getraut haben, die Dozierenden direkt um Hilfe zu bitten.

"Mir hat das aber immer gut gefallen, wenn der Professor ausgestrahlt hat, dass er das, was er tut, auch ganz gerne tut", reflektiert sie schließlich über ihre eigene Studienzeit – und lächelt dabei.

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