Offener Brief fordert Rückkehr zur Präsenzlehre

03.07.2020
Campus-News, Studium
lki

Ein offener Brief heizt die Diskussion um die Rückkehr der Universitäten und Hochschulen zur Präsenzlehre an. Sechs Forscher der JGU Mainz schildern, weshalb man in den Hörsaal zurückkehren müsse.

Das rein digitale Sommersemester ist nicht nur für Studierende eine Umstellung. Auch Lehrende vermissen die Universität mit ihrer Präsenzlehre als kollektiven und interaktiven Lebensraum. In einem ersten offenen Brief aus Forschung und Lehre (campus-mainz.net berichtete) hatten sich Lehrende, Forschende und Studierende deshalb bereits für ein "Nicht-Semester" ausgesprochen. Diesem folgte am 8. Juni 2020 ein von Germanistik-Professor:innen initiierter offener Brief "zur Verteidigung der Präsenzlehre", der die Debatte um die Rückkehr zur Präsenzlehre und um die Digitalisierung von Hochschulen ins Visier nimmt. Zu den Initiator:innen zählen u.a. Prof. Dr. Roland Borgards (Goethe-Universität Frankfurt), Prof. Dr. Johannes F. Lehmann (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) und Prof. Dr. Juliane Vogel (Universität Konstanz).

Seit Veröffentlichung des offenen Briefs auf der Webseite praesenzlehre.com kamen zu den 2046 Erstunterzeichner:innen aus der Wissenschaft bereits über 3409 weitere Unterstützer:innen aus Studium, Forschung und Lehre hinzu (Stand: 3. Juli 2020). Unter allen Unterschriften finden sich auch 62 Wissenschaftler:innen der JGU Mainz, von denen sich sechs dazu bereiterklärt haben, ihre Beweggründe für die Unterstützung des Briefs zu erläutern.

Sorge um Ablösung der Präsenzangebote

Laut offenem Brief ist die Sorge groß, dass die digitale Lehre, die anfangs vielmehr zur Unterstützung der Präsenzlehre eingesetzt wurde, in Zeiten der Corona-Pandemie allerdings als "glückliche Rettung" das Ruder übernommen habe, die analoge Lehre somit ablösen könne. Die Unterzeichner:innen erhoffen sich durch das Schreiben eine schrittweise Rückkehr zu Präsenzformaten, da drei wesentliche Aspekte im "Gefühl des plötzlich möglichen digitalen Sprungs nach vorn" drohten, verloren zu gehen: Einerseits falle die Universität als Ort der Begegnung weg, andererseits könnten sich Studierende dadurch weniger vernetzen. Als dritter Punkt wird der persönliche Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden genannt, der aufgrund der virtuellen Kommunikation gefährdet sei.

Prof. Dr. Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte, hält das Digitalsemester und dessen Ausweitung auf das Wintersemester 2020/21 (campus-mainz.net berichtete) für verfrüht. Aus seiner Fachperspektive scheint es ihm "nicht angemessen, digitaler Lehre scheinbar den Vorzug vor Präsenzlehre geben zu wollen." Da es sich beim Onlinesemester verglichen mit der Präsenzlehre um eine Ausnahme und keinen Regelfall handle, müsse die Entscheidung der Universitätsleitung, weiter auf digitale Lehre zu setzen, umfangreicher begründet werden. Zwar sei es in absehbarer Zeit nicht möglich, Vorlesungen in gewohnter Größenordnung abzuhalten, abseits der hygienischen Vorsichtsmaßnahmen müsse die Universität jedoch dazu in der Lage sein, "die Alternative 'Normalbetrieb' oder 'Notbetrieb' durch verantwortungsvolle Flexibilität" zu ersetzen.

Den campusweiten Notbetrieb hatte JGU-Präsident Prof. Dr. Georg Krausch am 23. März 2020 in einer Pressemitteilung damit begründet, "die exponentielle Entwicklung des Infektionsgeschehens zu verlangsamen". In einer Rundmail vom 22. Mai erläuterte die Hochschulleitung darüber hinaus, dass das Sommersemester 2020 an der JGU digital bleiben werde, da räumliche und zeitliche Kapazitäten fehlen würden, um eine Präsenzlehre mit genügend Abstand zu gewährleisten. Seit dem 3. Juni steht der Entschluss des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur fest, dass das Wintersemester 2020/21 als Mischform aus Digital- und Präsenzlehre stattfinden wird. Ausschlaggebend dafür seien nach wie vor die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Hygienevorschriften vor Ort.

Unzureichende Maßnahmen der Politik und Hochschulleitungen

Prof. Dr. Matthias Pulte ist Universitätsprofessor für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät. Er fürchtet ebenfalls, dass der Vorzug der digitalen Lehre aus Gründen des Infektionsschutzes während der Corona-Pandemie auch darüber hinaus anhalten könnte. Die Hochschulleitungen und "die Politik" dürften aus der bereitwilligen Umstellung nicht die falschen Schlüsse ziehen. Denn auch er beklagt die im offenen Brief angesprochenen Einschnitte in die Diskussionskultur durch die digitale Lehre.

Aus Prof. Dr. Pultes Sicht begünstigt die digitalisierte Lehre finanzielle Einsparungen seitens der Verwaltungen und Exekutive der Länder, "die auf dem Rücken der Pandemie strategisch umgesetzt werden." Ihm zufolge gehöre Rheinland-Pfalz ohnehin schon zu den Schlusslichtern, was die Finanzierung von Bildung und Wissenschaften betrifft. Laut Bildungsfinanzbericht 2019 beliefen sich die öffentlichen Ausgaben für rheinland-pfälzische Hochschulen im Jahr 2019 auf 878 Millionen Euro. Zum Vergleich: Nordrhein-Westfalen erhielt mit 6,93 Milliarden Euro die höchste staatliche Förderung, Brandenburg mit 377 Millionen Euro die niedrigste. Im Ländervergleich landet Rheinland-Pfalz auf dem achten Platz der finanziellen Hochschulförderung.

Für Prof. Dr. Kurt Binder, Professor für Physik der Kondensierten Materie, scheint es derweil, als würden die zuständigen Bundes- und Landesministerien die Debatte um die digitale Lehre wenig kümmern. Vollkommen unverständlich sei es, dass der Notbetrieb an den Universitäten weiterhin aufrechterhalten werde, Bordelle jedoch wieder geöffnet hätten. Eine solche Öffnung wurde zunächst von der rheinland-pfälzischen Landesregierung angekündigt, dann jedoch aus Hygienegründen zurückgezogen. Derweil werden in anderen gesellschaftlichen Bereichen, etwa Schulen und Kindergärten, Einschränkungen gelockert. "Was die Schulen zu leisten in der Lage sind, sollte auch Universitäten möglich sein", heißt es daher in dem Protestschreiben. 

Auch am Standort Germersheim gelten derzeit erhebliche Einschränkungen. Präsenzveranstaltungen oder mündliche Prüfungen vor Ort würden von der Hochschulleitung in der Regel abgelehnt. Dadurch sieht sich Prof. Dr. Dr. Andreas Kelletat, Professor für Interkulturelle Germanistik am Germersheimer Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft (FTSK), in seiner Urteilskraft von der Hochschulleitung entmündigt. Weshalb man nicht nach Belieben entscheiden und selbst Verantwortung dafür übernehmen könne, welche Studierende und Doktoranden man zum Austausch in den Örtlichkeiten der Uni einlade, ist für ihn nach wie vor fraglich. Für Prof. Dr. Ulrich Breuer, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und -geschichte am Deutschen Institut, hänge die Entscheidung über die Einführung und Beibehaltung der digitalen Lehre jedoch nicht ausschließlich von der "Entscheidungshoheit der JGU Mainz" ab.

"Es fehlt an Resonanz"

Prof. Dr. Dr. Kelletat sieht zudem kritisch, dass die digitale Lehre einen Rückschritt zum Frontalunterricht fördere. Den fehlenden Austausch bemängelt auch Dr. Timothy Attanucci, Dozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und -geschichte am Deutschen Institut. Denn anhand der asynchronen sowie synchronen digitalen Lehrformate lasse sich "nur schwer erraten, ob Studierende etwas verstanden haben".

Prof. Dr. Breuer sieht vor allem die Lage "schwächerer" Studierender und Studierender im ersten Semester mit Sorge: "Der Anteil verzweifelter und hilfloser Fälle ist dort eindeutig am größten." Denn diese Studierenden hätten zunehmend Schwierigkeiten damit, am Ball zu bleiben. Ihm zufolge lässt sich auch nur erschwert anhand von – sowohl anonymem als auch personalisiertem – Feedback nachvollziehen, wer aufgrund der aufgehobenen Anwesenheitspflicht die digitalen Veranstaltungen wahrnimmt und wer Verständnisprobleme hat oder gar unterfordert ist.

Darüber hinaus sind insbesondere internationale Masterstudierende aktuell benachteiligt, findet Prof. Dr. Dr. Kelletat. Diese müssten sich "mühsam mit den deutschen Verhältnissen vertraut machen", ohne je eine Bibliothek am Standort aufgesucht oder eine wissenschaftliche Arbeit in Deutschland geschrieben zu haben.

Indem es von Seiten der Studierenden an Resonanz fehle, sei die Effizienz der Lehre vehement beeinträchtigt, so Dr. Attanucci. Zudem würden Lehrende, die im digitalen Semester einen Mehraufwand bewerkstelligen müssten, nach Dr. Attanucci durch das fehlende Feedback teilweise entmutigt werden. Auch Prof. Dr. Dr. Kelletat berichtet von diesem Problem aus eigener Erfahrung: Zurzeit bietet er eine Übung zum Übersetzen von Gedichten an, die stark auf Metrik, Rhythmus und Körpersprache ausgelegt ist. Die digitalen Lehrformate kämen ihm dabei nicht zugute, weshalb er fragt, ob es denn je gelungen sei, "jemandem das Schwimmen in einem Becken beizubringen, in dem es kein Wasser gibt".

Zusätzlich sei überaus fraglich, wie sich das für den Standort Germersheim weitgehend digitale Wintersemester 2020/21 auch künftig auf die "'Internationalisierung'" des FTSK auswirken werde: Denn dann würden die ausländischen Masterstudierenden während zwei Semestern – also der Hälfte ihres Studiums – ihre Dozierenden nie persönlich erleben können. "Warum die dann überhaupt noch an unsere Universität kommen sollen, wird sich manchem nicht mehr erschließen und über die sozialen Netzwerke wird sich das herumsprechen", befürchtet Prof. Dr. Dr. Kelletat. Auch Prof. Dr. Pulte befürchtet, dass die JGU im internationalen Vergleich den Anschluss verpassen könnte, weil die Präsenzlehre bei vielen renommierten Universitäten im Ausland bereits zurückkehre. Zu diesen Hochschulen gehörten u.a. die Université de Limoges und das Londoner King's College, das sich für kommendes Wintersemester auf Unterrichtsaktivitäten in kleinen Gruppen vorbereite, Vorlesungen würden allerdings mindestens für das erste Semester weiterhin online gehalten.

Digitale Lehre bietet auch positive Aspekte

Nach der anfänglichen Eingewöhnungsphase würden sich Studierende laut Prof. Dr. Pulte ähnlich zu den Lehrenden mit der Zeit jedoch auch "in das Unvermeidliche" fügen: Seine Veranstaltungen würden unter den Umständen funktionieren und seien mit mehr als zwei Drittel der Studierenden sehr gut besucht. Zudem seien ihm zufolge alternative Prüfungsformate (campus-mainz.net berichtete), wie schriftliche Take-Home-Exams und mündliche Onlineprüfungen über Skype for Business oder Microsoft Teams, ein "adäquater Ersatz ohne Qualitätsverlust" für die bisherigen Präsenzprüfungen. Allerdings müsse man bei solchen alternativen Prüfungsformen mit Blick auf mündliche Prüfungen Studierenden künftig die Wahl lassen, welche Prüfungsform sie ablegen wollen.

Prof. Dr. Breuer berichtet wiederum, dass seine Veranstaltungen aufgrund der Umstellung dieses Semester höhere Anforderungen als sonst hätten, sich die Seminarergebnisse aber sehen lassen könnten. Seiner Erfahrung nach könnten sich Studierende nun v.a. über synchrone Anwendungen, die sich auf den Audiokanal beschränken, besser auf die Sachkommunikation konzentrieren und präziser argumentieren. Dr. Attanucci gibt jedoch zu bedenken, dass die digitalen Medien nur bis zu einem gewissen Grad das Selbststudium besser strukturieren würden und durch Kommunikation unter Kleingruppen begleiten könnten.

Das aktuelle Semester zeige für Prof. Dr. Rödder auf, "was in digitaler Hinsicht alles möglich ist". Dennoch würde es allen Universitätsangehörigen vor Augen führen, dass persönliche Interaktion als Kern der universitären Lehre nach wie vor unverzichtbar sei. Zusammengefasst handle es sich hierbei um eine Testphase, die sich laut Prof. Dr. Dr. Kelletat besonders gut eigne, um Fehlerquellen in der digitalen Lehre aufzuzeigen, wobei besonders die Schmerzgrenzen von Studierenden und Lehrenden ausgetestet würden.

Begrenzte Erfolgschancen

Allerdings sieht Prof. Dr. Dr. Kelletat keine besonders hohen Erfolgschancen für den offenen Brief zur Rückkehr zur Präsenzlehre, den er unterzeichnet hat – weder auf Landes- noch auf Bundesebene. Denn dort würden die Stimmen überwiegen, die nun Innovationen fordern. Mit diesen Reformen wäre vielen Fächern jedoch nicht geholfen – im Gegenteil. Laut Prof. Dr. Binder würden v.a. naturwissenschaftliche Studiengänge unter der digitalen Auslagerung leiden, da insbesondere diese auf Interaktion und Praxis im analogen Bereich ausgelegt seien. 

Dr. Attanucci sieht die derzeitige Nutzung der digitalen Lehre demgegenüber als Erinnerung, "dass Lehrende – so wie auch Studierende – an der künftigen Gestaltung der universitären Lehre beteiligt sein sollten." Ganz in diesem Sinne wurde von der Universitätsleitung am 18. Juni 2020 in einer Rundmail angekündigt, dass anhand einer Onlinebefragung (campus-mainz.net berichtete) Erfahrungsberichte von Studierenden erhoben werden, um darauf basierend das Wintersemester 2020/21 zu planen und weiterzuentwickeln.

Ausnahmesituation für viele Universitätsangehörige

Im Rahmen einer separaten, campusweiten Recherche haben darüber hinaus auch einzelne Promovierende und wissenschaftliche Mitarbeiter:innen davon erzählt, wie die Corona-Pandemie ihre Forschung und Lehre beeinträchtigt. Neben Lehrenden und Forschenden haben sich auch Studierende als Teil des Rechercheprojekts geäußert: Sie berichten von ihren eigenen Erfahrungen mit dem digital geprägten Studium in diesem Semester und den Auswirkungen der Pandemie auf ihre Arbeitsverhältnisse.

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