Muschelkritik | Der sichtbare Mensch in "Get Out"

17.10.2017
Freizeit
lcu

Hinter der Fassade des wohlhabenden Weißen offenbart sein liberaler Geist Intoleranz und posthumane Hybris. Da gilt es nicht nur für den Schwarzen den Ausgang zu suchen. Wie, zeigt "Get Out": Durch das Kino.

1922 hatte der russische Filmtheoretiker und Regisseur Dziga Vertov eine klare Auffassung von den revolutionären Möglichkeiten des kinematografischen Apparats. Dieser Apparat, bis dato eher wegen seiner vermeintlichen Fähigkeit zur Reproduktion der Wirklichkeit verschmäht oder gar nicht erst als solcher wahrgenommen, sollte dabei helfen den "neuen Menschen" zu schaffen. Während das "Kinoglaz" unendlich optimiert werden könne, so Vertov, sei das menschliche Sehorgan von beschränkter Natur und müsse durch jenes technische Auge, im metaphorischen Sinne, ersetzt werden. "Ich bin Kinoglaz", schreibt Vertov inbrünstig und liebäugelt wie viele formalistische Kollegen seiner Zeit nicht nur mit einer kommunistischen, sondern auch einer posthumanen Utopie.   

In Get Out schlummert der prometheische Immortalitätsgedanke nicht in einem technischen Apparat, sondern verbirgt sich hinter dem schönen Schein einer abseits der Großstadt und der Suburbia abgeschotteten Familienbande, welche das Ideal aufgeklärter, liberaler Reicher verkörpert: Der Vater ist renommierter Arzt, die Mutter arbeitet als Psychotherapeutin, der Sohn ist ein wenig eigen, aber auf dem richtigen beruflichen Weg und die hübsche Tochter bringt ganz selbstverständlich ihren schwarzen Freund mit nach Hause. Selbst die deplatzierten schwarzen Angestellten, die wie ein Klischee aus Zeiten der Sklaverei wirken, sind Teil der großen, liebevollen Familie.

Eine Inklusions-Idylle also, in der das ungeliebte Rauchen, das Symbol (!) der glutenfreien Ernährungs- und Gesundheitsökonomie par excellence, per Hypnose geheilt und Barack Obama, zweifelsohne der beste und coolste Präsident aller Zeiten, am liebsten noch ein drittes Mal gewählt worden wäre. Auch ist es kein Zufall, dass Mutter Missy als Therapeutin arbeitet: Die Therapie ist das neumodische Lieblingsspielzeug all derjenigen, die sich jedes erdenkliche Wehwehchen teuer behandeln lassen wollen und auch können.

Ein Symbol post-ideologischer Machtstrukturen

Natürlich verbirgt sich hinter der sichtbarsten Form der Toleranz tiefe Intoleranz, doch ist es eine gegenüber dem Leben selbst. Das Menschliche, so bemerken es Hauptfigur Chris und der Zuschauer recht schnell, ist bei allen Weißen einer merkwürdig regungslosen Persona gewichen. Leblos und seltsam surreal wirkt das Treiben in und um das Anwesen, und dass diese Standardsituation sich nicht an den Kinderkrankheiten des Horror-Genres ansteckt, ist der großen inszenatorischen Souveränität von Regisseur Jordan Peele zu verdanken. Durch ein Auge für symmetrische Kompositionslinien und ein Gespür für die dramaturgischen Möglichkeiten der Raumtiefe verfügt er über genau jenen Blickwinkel, den der erblindende Kunstliebhaber Jim Hudson am jungen Fotografen Chris angeblich so schätzt: Get Out ist stilistisch schnörkellos, direkt und konsequent. Und genauso konsequent ist die ideologische Implikation, in der die Therapie zum allumfassenden Symbol der Herrschaftskontrolle verkommt. Dann redet sich das Familienoberhaupt in einen Rausch über die Unsterblichkeit, das Kaminfeuer spiegelt sich leicht in seinen Brillengläsern und die Überlegenheits-Hybris ward perfekt: "Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde". Dass dieses Bild nun das eines Schwarzen ist, bleibt nur einer der Gründe, warum Get Out ein fabelhafter Film ist.

Was diesen Film erst besonders macht, ist die Umkehrung der vertov’schen Prämisse zur Schaffung des "neuen Menschen". Der hypnotisierte Schwarze, menschlicher Ersatzkokon und Garant für das Überleben der weißen Oberschicht, wird von jener psychotherapeutischen Behandlung einzig durch das Auslösen des Fotoblitzes befreit. Nicht nur wird hier der legendäre Hitchcock-Moment aus "Rear Window" verkehrt, sondern, grundlegender gesprochen, die Menschlichkeit durch den Fotoapparat gerettet. Dieser macht den ursprünglichen Menschen wieder sichtbar, lässt ihn aus seinem Hypnose-Gefängnis auftauchen. Wo das Kino bei Dziga Vertov einen Akt der Transformation zwischen Mensch und Maschine fordert, also die Menschlichkeit regelrecht abschaffen will, ist der Fotoapparat und damit repräsentativ das Kino in Get Out das entscheidende Instrument zur Befreiung des Menschen aus seinem ideologischen Gefängnis. Also aus jener ideologischen Hypnose, die bereits John Carpenter in They Live! durch die schwarze Sonnenbrille brüchig werden ließ. Rauchverbot, Therapiesitzung und Obamasucht verwendet Get Out als Symbole post-ideologischer Machtstrukturen, die in ihrer kosmopolitischen Idee von Toleranz nur ein Mittel zur Sicherung des Status quo sehen.

Die Sonne, so schrieb einmal George Melies, sei die Freundin des Fotografen. Während wir uns in prometheischer Hybris genau an dieser verbrennen, wird die Fotografie zum Erretter der Menschlichkeit, weil sie uns im buchstäblichen Sinne sichtbar macht. 

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