Masterkolumne | Es ist noch kein Anfang vom Himmel gefallen

14.08.2017
Studium, Masterkolumne
Leonie

Auf der ersten Seite der Arbeit findet man die Angst vor dem leeren Blatt, die Angst vor dem ersten Satz und die Angst vor den gutgemeinten Ratschlägen. Theoretisches zur Überwindung und Praktisches zum Scheitern.

Es gibt manchmal nichts Beängstigenderes als ein leeres Word-Dokument. Unter heftiger Selbstüberwindung öffne ich das Schreibprogramm und entscheide mich für einen Dokumentennamen – „Masterarbeit“ wäre die naheliegende Lösung. Aber ist das nicht ein etwas großes Wort für ein Dokument so leer wie die Flure des Philosophicums nach dem 30. September? Ich experimentiere ein wenig, wähle “Love Bites“ als Namen. Das ist der Übertitel meiner Arbeit. Leider habe ich schon ein Dokument mit Notizen so genannt. Es dauert schließlich über zwanzig Minuten, bis ich bei “MA“ bleibe. Die Abkürzung soll dem Wort den Schrecken nehmen. 

Ja, mir fällt der Schreibeinstieg schwer. Sehr schwer. Die weiße Seite scheint mir leise zuzuflüstern: “Ich bin nur eine von mindestens sechzig und hier steht nicht ein einziges Wort.“ Das ist nicht eben ermunternd und macht den ersten Satz zu einem kleinen Sandkorn am Strand , dem noch so unendlich viele folgen müssen. Als Kind habe ich furchtbar gerne Michael Endes "Momo" gelesen. Eine Weisheit daraus hat sich mir bis heute fest eingebrannt: Beppo, der Straßenkehrer, sieht keinen Sinn darin, immer ans Ende der zu kehrenden Straße zu denken. Stattdessen denkt er immer nur an den nächsten Besenstrich und merkt so gar nicht, wie gewaltig seine Aufgabe ist. 

Leicht gesagt und selten umgesetzt

Das ist nur eine besonders schöne Variante der Feststellung, dass man zwangsläufig den ersten Schritt vor dem zweiten tun muss. Obwohl das eine Binsenweisheit ist und obwohl ich die Worte von Beppo so verinnerlicht habe, klappt die Umsetzung nicht so gut. Ich würde mich lieber schon mal für die Farbe entscheiden, die der Umschlag der Druckversion später haben soll, als den ersten Satz zu schreiben. Ich suche mir lieber schon ein Kleid aus, dass ich zur Abschlussfeier tragen kann... und starre weiter in die weiße Wüste auf meinem Bildschirm als würde ich hoffen, meine Gedanken würden sich dort irgendwann von selbst abbilden. So Tom-Riddles-Tagebuch-mäßig. An diesem Punkt wäre ich vermutlich sogar bereit, ein Stückchen meiner Seele dafür zu opfern.  

Die Umgebung ist dabei plötzlich reich an Tipps gegen diese Art von Schreibblockade. Die Hölle, das sind die anderen, die mich fragen, wie meine Arbeit läuft. So oft am Tag, wie ich ausweichend mit den Schultern zucken muss, werde ich noch vor meinem ersten Satz Gelenkschwierigkeiten bekommen. Wenn ich dann doch durchblicken lasse, dass ich nicht richtig ins Schreiben komme – wovon ich eigentlich gehofft habe, dass es wie ein Fortschritt klingt, immerhin lese ich nicht mehr – ist der häufigste Ratschlag: Fang nicht mit der Einleitung an. 

Rebell aus Verunsicherung

An dieser Stelle ein kleines Geständnis: Ich fange immer mit der Einleitung an. Ich kann nicht anders. Ich verstehe auch eigentlich gar nicht, was das soll. Ich verstehe nicht, wirklich nicht, wie man mitten im Inhalt beginnen kann. Woher soll ich wissen, was ich später in der Einleitung noch sagen werde und deswegen im Kapitel weglassen kann? Werde ich nicht in Versuchung sein, trotzdem bei Adam und Eva anzufangen? Bleibt für die Einleitung überhaupt noch irgendwas übrig, wenn ich erst alle anderen Teile schreibe? Und natürlich: Was für eine Art von erstem Satz schreibt man da?!

Mit der Einleitung zu beginnen, ist wie in einen schwimmenden aufblasbaren Reifen ins Meer zu steigen. Nicht bei spiegelglattem Wasser, sondern wenn der Reifen auf kleinen Wellen heftig hin und her schaukelt. Es ist nicht gerade einfach. Man braucht mit großer Wahrscheinlichkeit mehr als einen Anlauf. Verschiedene Techniken werden erprobt, mit den Füßen zuerst springen (dumm, Kopf gerät schnell unter Wasser, gurgel), mit dem Oberkörper draufwerfen (Reifen glitscht weg), rückwärts springen und hoffen, dass man genau das Reifenloch trifft (der Wellengang hat den Reifen längst hinterm Rücken weggetragen, ungebremstes Abtauchen), natürlich auch systematisches Festhalten und ein Bein nach dem anderen drüberlegen. Man scheitert häufig. Aber ist man erst auf oder im Reifen, wird man recht angenehm durch die Wellen geschaukelt und man hat auch eine Weile Spaß – bis irgendeine Monsterwelle einen brutal runterschleudert. Aber man soll ja immer nur an den nächsten Schritt denken. 

Besser als nichts: Der banale Rettungsring

Bevor die Metapher endgültig ausufert – zumindest sprachlich bin ich im Strandurlaub – zurück zum harten Wahrheitskern. Die Einleitung zuerst zu schreiben gibt mir den Strohhalm, mit einem ganz allgemeinen Satz an der Grenze zur Belanglosigkeit anzufangen. Jede Seite ist ein Stein im Textgebäude. Ich schreibe lieber eine erste Seite Einleitung, die ich später vielleicht von einigen Banalitäten befreien muss, als im leeren Raum anzufangen. 

Mir ist durchaus bekannt, dass man die Einleitung auch deswegen zuletzt schreiben sollte, weil man so am Ende sicher sein kann, dass man in der Einleitung nichts projektiert  hat, was dann im Hauptteil nirgendwo vorkommt. Ich frage mich allerdings auch, wem so etwas im großen Stil passiert. Wer liest denn nochmal seine Einleitung und denkt: „Ach, hm, über diesen Text habe ich jetzt gar nicht geschrieben, dieses Thema habe ich gar nicht erwähnt, eigentlich geht es hier jetzt sowieso um was ganz anderes?“ Das würde mich schon an der Qualität der Vorarbeit zweifeln lassen. Aber gut, andererseits weiß ich ja, das passiert niemandem. Weil man seine Einleitung einfach nicht zuerst schreibt. 

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zum Kaffeeautomaten 

Sicher ist es von Vorteil für mich, dass ich vom Schreibtyp „Der erste Entwurf ist der letzte Entwurf“ bin. Das hat nicht nur damit zu tun, dass nach dem ersten Entwurf häufig auch nicht mehr genug Zeit bis zur Deadline ist, um ihn umzuarbeiten. Tatsächlich bin ich mit dem, was ich schreibe, meist im Großen und Ganzen zufrieden. Ich lösche keine langen Passagen und ich arbeite keine Kapitel um. Ich brauche unwahrscheinlich viel Anlauf, aber wenn ich zu schreiben anfange, bleibe ich bei meinen Sätzen. Der Ablaufplan ist in meinem Kopf schon sehr klar und es muss mir nur (haha) gelingen, ihn ausformuliert zu Papier zu bringen. 

Das hat für mich allerdings auch einen hinderlichen Nachteil. Ich langweile mich so beim Schreiben. Ich habe so lange recherchiert, dass ich mich fühle, wie ein überreifer Pfirsich. Wenn ich den richtigen Anstich gefunden habe, läuft es eigentlich recht geschmeidig aufs Papier. Aber jetzt gibt es nichts Neues mehr für mich zu erfahren. Im Endeffekt weiß ich schon ziemlich genau, was wo stehen soll. Es verunsichert mich sogar, während des Schreibens noch unbedachte Ecken und Kanten meines Themas zu finden. Wobei Langeweile natürlich nicht der beste Begleiter für ein langwieriges Schreibprojekt ist, das einige Ausdauer erfordert. 

Da bereits die Hälfte meiner Zeit verstrichen ist, bin ich langsam aber sicher auch darauf angewiesen, dass es läuft, sobald ich nur den ersten Satz bewältige. Ich versuche, meine Erfahrungen mit meinem Schreibtyp positiv zu nutzen und mich mit der Vorstellung zu motivieren, dass irgendwann der Fluss kommt und sich nicht mehr jeder Satz wie das Durchstoßen einer Stahlbetonwand mit dem unbekleideten Kopf anfühlt. Wenn ich nur diesen ersten Satz finde. Den ich ja ganz leicht finden kann, wenn ich nur mit dem Anfang anfange. Aber jetzt mache ich zunächst mal den ersten Schritt vor dem zweiten und hole mir einen Kaffee. 

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