Aller Anfang ist schwer: Das gilt für diesen Text und das gilt für den Anfang vom Ende meines Studiums. Mit dem Leidensdruck wächst auch der Mitteilungsdrang. Das weiß jeder, der in den Phasen des Hausarbeiten-Schreibens in einer der Verpflegungsstationen der Uni gesessen hat. Nach stundenlangem Schreiben (oder anderweitigen Bildschirmtätigkeiten) verschwinden die Neonlicht-Zombies aus den Bibliotheken, um sich in kleineren Gruppen über im Nährwertgehalt stark schwankenden Mahlzeiten zu beugen.
Dabei entstehen kulturell höchst spannende Dialoge, die mit einem kommunikativen Austausch allerdings recht wenig zu tun haben. Die lange in der Stille der Arbeitsräume Gefangenen brechen ihr Schweigen für die kurze Zeit des Essens radikal, zeigen sich häufig aber kaum in der Lage, ihre akademische Gedankenwelt auch nur kurz zu verlassen. Stattdessen monologisieren sie jeweils über die aktuellen Probleme und den Stand ihrer Arbeit, durchzogen von Dauerschleifen der Selbstanklage und des schlechten Gewissens.
Ohne vom Redebeitrag des Gegenübers mehr als nötig mitgenommen zu haben, kehren sie dann zum Schreibtisch zurück, um dieses Verfahren in der nächsten gemeinsamen Pause zu wiederholen.
Die beste Beobachtung liefert natürlich, wer unmittelbar an solchen Ritualen teilnimmt, und ich bekenne mich schuldig. Das Bedürfnis, den Kampf mit der Arbeit im einseitigen Redefluss in immer neue Worte zu kleiden, scheint mit der erwarteten Seitenanzahl zu steigen. Ich bin an dem Punkt, an dem ich bereit bin, mich an den potenziell größten Tisch zu setzen und meine Mensa-Monologe schriftlich zu fassen:
Ich muss eine Masterarbeit schreiben.
Wer ist also diese Person, die hier in den kommenden Monaten den individuellen Kampf zur universellen Erfahrung machen will? Ich fange den Namensball und fasse zusammen: Ich heiße Leonie, studiere germanistische Literaturwissenschaft im Master und habe gerade meine Abschlussarbeit angemeldet. Meine Hobbies sind schreiben, schreiben und schreiben. Zumindest sollten sie das in den kommenden Wochen besser sein.
Was ich hier gerade in einen Halbsatz gepackt habe, war die verschobene Lebensentscheidung des letzten halben Jahres. Jeder kennt das ewige Morgen, in dem man aufräumt, putzt, das Referat vorbereitet, die Großeltern anruft. Es lagen viele dieser Morgen zwischen meinem ersten Zeitplan für die Masterarbeit und der Anmeldung.
Pro-Tipp für notorische Vertager: Think big. Morgen ist schon viel zu vollgeschoben, verschieb direkt auf nächsten Monat. Hätte ich jedes Mal, wenn ich zu jemandem "Nächsten Monat melde ich an!" gesagt habe, eine Seite geschrieben, wäre die Arbeit schon fertig.
Fertig bin stattdessen meistens nur ich, und zwar mit den Nerven. Seit über fünf Jahren bin ich an der Uni und habe mich die meiste Zeit auch ziemlich wohl gefühlt. Wenn ich in vier Monaten abgebe, ist das Ende unausweichlich und der nächste Schritt zum ersten Mal in meinem Leben ungewiss. Das ist nicht gerade ein Gedanke, der aus dem Hinterkopf heraus eine ruhige, entspannte Arbeitssituation begünstigt. Leider nein, leider gar nicht.
Also habe ich die Anmeldung als ersten Schritt von einer Reihe letzter Schritte nicht nur ein ganzes halbes Jahr verschleppt, sondern mich dadurch auch noch selbst ironisiert. Mehrere Semester lang habe ich ein Tutorium zum wissenschaftlichen Schreiben gegeben, in dem ich anderen Leuten Tipps zur Organisation ihres Schreibprozesses und zum Zeitmanagement gegeben habe. Achtung, ein Geheimnis: Nur weil man vermitteln kann, wie etwas theoretisch geht, heißt das noch lange nicht, dass man es praktisch beherrscht. 'Man' bin in diesem Fall ich.
Üblicherweise beginnt der Schreibprozesses mit einem sogenannten Schreibauftrag (für Studis ist das nur das nettere Wort für "Write or Fail – die Modulabschlussprüfung"), es folgen die Suche nach einer Fragestellung, Recherche, Einlesen, ein Gliederungsentwurf, ein erster Textversuch... und zahlreiche weitere Schritte, die auf dem Papier klingen wie ein automatisches Karussell, das losläuft, sobald man einsteigt.
Erstens ist das aber ein recht unheimliches Bild, wenn man bedenkt, dass man meistens mehr als eine Hausarbeit schreibt, also keine Gelegenheit hat, vom Karussellpferd zu springen und dementsprechend so lange im Kreis fährt, bis man die während der Fahrt verschlungene Sekundärliteratur schwungvoll auf die Deadline erbricht.
Zweitens trifft es, zumindest für mich, nicht zu. Mein Schreibprozess gleicht eher einem führerlosen Güterzug, den es gilt, zunächst einen Hügel hinaufzuschieben. Tonnenweise rostiger Stahl, bergauf. Alleine. Ich brauche natürlich ewig, um den Zug auch nur einige Zentimeter zu bewegen und weil es sehr anstrengend ist, mache ich viele Pausen, bei denen ich einfach nur neben meinem Zug sitze und ihn ratlos anstarre.
Wenn ich es aber über den Hügel geschafft habe, ist der Abgabetermin oft schon bedrohlich dicht. Der Zug nimmt ziemlich spontan an Fahrt auf, ich muss aufspringen und rase in Richtung nahes Ende. Dort angekommen prallt der Zug mit maximaler Geschwindigkeit gegen den Prellbock, ich werde herunter geschleudert, werfe die gerade so abgeschlossene Arbeit von mir und bleibe im hohen Gras liegen. Das ist jetzt nur minimal dramatisiert.
Niemand hat mich darauf vorbereitet, dass der Schreibprozess neben den zielführenden Schritten auch die Stationen "Verzweiflung über in der Bibliothek vermisste Bücher", "Weinen über eine hundertseitige Kopie, bei der an jedem Rand ein Zentimeter Text fehlt", "Verschiedene Schriftarten auf Platzverbrauch bei Größe 12 prüfen" und "'why do I suck at working' googlen" enthält.
Dennoch, nachdem ich mich lange genug auf dem metaphorischen Rangierbahnhof der möglichen Abschlussarbeitsthemen aufgehalten habe, geht die Reise jetzt endlich los. Man sollte meinen, bis zur Masterarbeit hätte ich schon so viele Züge geschoben, dass ich Wettkämpfe in dieser Disziplin bestreiten könnte. Kurz gesagt: Irrtum. In dieser Kolumne werde ich den Weg schonungslos abbilden.
Zuletzt noch etwas, das ich vorsichtshalber ans Ende dieser Vorstellung gestellt habe. Bitte tief durchatmen und in den kommenden drei bis fünf Zeilen Ruhe bewahren. Ich bin nicht nur begeisterte Germanistin, ich bin sogar begeisterte Mediävistin. Ich schreibe meine Abschlussarbeit über Literatur vor 1500. Über mittelhochdeutsche Literatur. Richtig gelesen, über Texte, die älter als der Buchdruck sind. Aus dem Mittelalter. I am that girl.
Meine Masterarbeit hat das Thema "Sexualität und Essen in der mittelalterlichen Erzählliteratur" und ich kann gar nicht beschreiben, wie viel Spaß mir das bereitet. Jeder, der gähnt, wenn er auch nur das Wort 'Mittelhochdeutsch' hört, kann noch nie einen Text wie "Die halbe Birne" gelesen haben. Das Mittelalter ist nicht einfach das sogenannte dunkle Zeitalter, es ist fifty shades darker.
Mit diesen ersten Bildern für's Kopfkino verabschiede ich mich für den Anfang. Jetzt werde ich mir erst mal überlegen, welche Aufgaben ich von heute auf ein ungewisses Morgen verschieben kann und wie viel Zeit ich dadurch für Nichtstun gewinne.
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