Interview | „Chancen für alle“ durch BAföG?

05.10.2015
Studium
aw

„Erhöhungen und Verbesserungen noch in diesem Jahr“, fordert Kai Gehring, MdB. Ein Interview über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des BAföG-Modells.

BAföG – ein Dauerthema, unter Studierenden wie in der Politik. Gerade jetzt zum Wintersemester 2015/16, wo sich wieder zahlreiche Studienanfänger mit Fragen und Problemen rund um das Thema Studienfinanzierung beschäftigten. Im Sommer 2015 wurde in der Öffentlichkeit viel über BAföG diskutiert. Anlass waren einige Änderungen, die seit August gelten, sowie Auswertungen des statistischen Bundesamtes, nach denen die Zahl der BAföG-Berechtigten im vergangenen Jahr erneut rückläufig war.

Über diese Zahlen, die aktuellen Änderungen sowie die Gerechtigkeit des BAföG-Systems sprach Campus Mainz mit Kai Gehring von den Grünen. Gehring ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecher für Hochschule, Wissenschaft und Forschung in seiner Partei. 

Zum 1. August sind einige Änderungen im Rahmen des 25. BAföG-Änderungsgesetz in Kraft getreten. Unter anderem soll die Förderung während des Übergangs von einem Bachelor- zu einem Masterstudium erleichtert werden. 

Die Umstellung auf das zweigliedrige Studiensystem startete bereits 2002. Warum kommt die Anpassung des BAföG an diese Struktur so spät?

CDU/CSU und SPD gebührt die zweifelhafte Ehre, eine BAföG-Reform verabschiedet zu haben, die erst Jahre später bei den Studierenden wirklich ankommt. Nach vier Jahren ohne BAföG-Erhöhung verordnet die Koalition Schülerinnen, Schülern und Studierenden zwei weitere Nullrunden. Das ist ein Unding! Und es wird auch nicht dadurch besser, dass einige wenige strukturelle Änderungen vorgezogen werden. CDU/CSU und SPD regieren an den Sorgen und Nöten der Studierenden vorbei.

Schnelleres BAföG für Flüchtlinge

Eine weitere Änderung sieht vor, dass Flüchtlinge schon nach 15 anstatt wie bisher nach 48 Monaten BAföG beantragen können. Wenn es nach der Bundesregierung geht, soll diese Neuregelung schon ab dem 1. Januar und nicht erst ab dem 1. August 2016 gelten. 

Unterstützen Sie den Vorschlag der Regierung?

Flüchtlinge bringen Lebenserfahrung, Lernwille und Neugierde mit – haben Lust auf Bildung. Sie wollen sich einbringen, mitmachen und in der neuen Heimat Fuß fassen. Diese Energie gilt es aufzunehmen und zu fördern. Deswegen sollten Flüchtlinge in allen Bildungseinrichtungen willkommen sein. 

Aber auch die Finanzierung muss für sie schnell stehen. Statt erst nach 15 Monaten sollte Flüchtlingen das BAföG schon nach drei Monaten offenstehen. Denn wer nach drei Monaten arbeiten darf, soll auch nach drei Monaten BAföG beantragen dürfen. Zudem brauchen wir mehr Stipendien für Flüchtlinge. Allein 5.000 syrische Studierende haben sich 2014 beim DAAD um ein Stipendium beworben. Aber nur 200 Plätze hat das Auswärtige Amt finanziert. Dieses Missverhältnis darf so nicht bleiben. 

BAföG-Erhöhung 2016: „zu spät und zu mager“ 

Die kürzlich vom statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen zeigen, dass die Zahl der Studierenden, die BAföG erhalten, erneut gesunken ist. 

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Regierung auf die aktuelle Entwicklung reagiert und die Reform vorzieht? Dürfen Studierende sich noch Hoffnungen machen? 

Immer mehr verlieren die Chance auf Ausbildungsförderung. Zehntausende Schülerinnen, Schüler und Studierende sind seit 2010 aus dem BAföG herausgefallen. Die junge Generation braucht jetzt ein klares Ja für eine unverzügliche Reform der Studienfinanzierung. Das weiß auch die Bundesregierung – nur will sie das nicht sehen, nicht hören, nicht lesen. Wir lassen aber nicht locker: Erhöhung und Verbesserungen müssen noch in diesem Jahr kommen. 

Die für das nächste Jahr geplante BAföG-Reform, auf die die Studierenden dann sechs Jahre warten mussten, sieht eine Erhöhung der Bedarfssätze um sieben Prozent, des Förderungshöchstsatzes um 9,7 Prozent und der Freibeträge um ebenfalls sieben Prozent vor. 

Halten sie die die Höhe der Anhebungen im Hinblick auf den langen Zeitraum, in dem die Förderungssätze und Freibetrage nicht verändert wurden, für ausreichend? 

Die BAföG-Erhöhung von CDU/CSU und SPD kommt zu spät und fällt zu mager aus. Die Lebenshaltungskosten, vor allem Mieten und Nebenkosten, sind deutlich gestiegen. Das spüren Studierende, wenn das Geld schon aufgebraucht, der Monat aber noch lang ist. 

Die Freibeträge müssen um 10 Prozent steigen, damit überhaupt mehr junge Menschen BAföG erhalten, statt weiter massenhaft aus der Förderung und dem Berechtigtenkreis herauszufallen. Auch müssen die Fördersätze um 10 Prozent erhöht werden. Denn das BAföG muss zum Leben und zum Lernen reichen. 

Darüber hinaus wollen wir eine angemessene Erstattung der tatsächlichen Wohnkosten, gestaffelt entlang der regionalen Durchschnittsmieten. Damit neuerliche Hängepartien künftig nicht mehr vorkommen, setzen wir uns für eine dynamische, regelmäßige und automatische Anpassung der Bedarfssätze und Freibeträge ein. Das schützt vor Regierungswillkür und bringt Verlässlichkeit.

BAfög als „Chancengerechtigkeitsgesetz“

Sie sagen Ihr Ziel sei „Chancen für alle“, ihre Vision „ein Land der Chancengerechtigkeit und des Bildungsaufstiegs.“ Glauben Sie, dass dieses Ziel mit dem derzeitigen BAföG-Modell erreicht werden kann? 

Das ist in der Tat meine politische Vision. Ich bin überzeugt, eine sichere Studienfinanzierung mit klarem Rechtsanspruch motiviert zum Studieren. Das BAföG ist Chancengerechtigkeits- und Bildungsaufstiegsgesetz. 

Das BAföG allein reicht aber nicht, um die Hochschulen offener für die Vielfalt zu machen. Mehr Vielfalt auf dem Campus gibt es mit unterschiedlichen Lehr- und Lernkonzepten, flexiblen Studiengängen und -formaten, mehr Praxis- und Berufsorientierung oder auch mit mehr Betreuung und Beratung. 

Glauben Sie das derzeitige BAföG-Modell motiviert tatsächlich zum Studieren oder schreckt es Interessierte eher ab? Wo sehen Sie konkret Verbesserungsbedarf, was würden Sie tun, damit BAföG zu einer Unterstützung wird, auf die sich Studierende tatsächlich verlassen können? 

Das BAföG ist nach wie vor wichtig. Immer wieder sagen Studierende und Ehemalige: Ohne das BAföG hätte ich nicht studieren können. Gleichwohl gibt es Modernisierungsbedarf. Nur die Hälfte der Förderung gibt es als Zuschuss, die andere Hälfte muss zurückgezahlt werden. Und auch der Verschuldungsdeckel von 10.000 Euro schreckt gerade Kinder aus einkommensarmen Haushalten ab – denn das ist einfach viel Geld, vor allem für junge Leute ohne eigenes Einkommen. 

Zudem muss das BAföG stärker die Vielfalt der Lebensentwürfe der Studierenden abbilden. Der einheitliche Kinderzuschlag lässt noch auf sich warten. Die bessere Berücksichtigung für die Pflege von Angehörigen oder auch die Teilzeitförderung hat die Koalition – entgegen unserem Willen – gar nicht erst in die Novelle aufgenommen. 

Modernisierungsvorschlag: „Zwei-Säulen-Modell“

Was ist mit Studierenden, die durch das Raster fallen, deren Eltern also so viel verdienen, dass die Kinder kein BAföG erhalten, aber die ihre Kinder, insbesondere wenn mehrere Kinder studieren dennoch nicht unterstützen können. Ein BAföG-Prüfer sprach in einem Interview mit der Zeit mal von einem „Mittelschichtsloch“. Was raten Sie diesen Studierenden? Sollten Sie ihre Eltern verklagen? 

Die übergroße Mehrheit der Eltern unterstützt ihre Kinder mit Geld, Rat und Tat. Wenn es zu Klagen kommt, dann betrifft es vor allem Kinder, wo ein Elternteil nicht mit dem BAföG-Amt kooperiert. In dieser Situation ist es wichtig, Beratung zu suchen, um möglichst schnell Geld zu bekommen, damit das Studium nicht abgebrochen werden muss. 

Anders sieht es beim berühmt-berüchtigten Mittelschichtsloch aus. Immer wieder fliegen Studierende aus dem BAföG, weil Mama oder Papa eine Gehaltserhöhung bekommen hat. Da hilft nur eines: Die Freibeträge beim BAföG müssen endlich stärker und auch regelmäßig angehoben werden. 

Mittelfristig wollen wir aber eine noch umfassendere Modernisierung des BAföG – nämlich ein Zwei-Säulen-Modell. Die erste Säule unseres Modells ist ein Zuschuss, den alle Studierenden erhalten. Er schafft die Basisabsicherung und orientiert sich mindestens an der Höhe des Kindergeldes. Damit soll allen Studienberechtigten Mut gemacht werden, ein Studium zu beginnen. Die zweite Säule ist der „Bedarfszuschuss“. Er richtet sich ähnlich wie das heutige BAföG gezielt an Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern. Beide Zuschüsse müssen jedoch – anders als das jetzige BAföG – nicht zurückgezahlt werden. Am Ende des Studiums stehen also keine Schulden mit Rückzahlungspflichten, sondern gute Jobaussichten.

Herr Gehring, wir bedanken uns für dieses Gespräch. 

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