Interview | Anwesenheitspflicht aus Sicht der Lehre

02.02.2015
Studium
sw

In Vorlesungen besteht an der Johannes Gutenberg-Universität keine Anwesenheitspflicht. Viele Studierende würden am liebsten auch die Anwesenheitspflicht in Seminaren abschaffen. Wir haben Juniorprof. Dr. Leonard Reinecke vom Institut für Publizistik nach seiner Meinung zur Anwesenheitspflicht gefragt.

Finden Sie es gut, dass es in Vorlesungen keine Anwesenheitspflicht gibt?

Zunächst möchte ich betonen, dass ich die mit dem Aufheben von Anwesenheitspflichten verbundenen Ziele grundsätzlich unterstütze. Natürlich wollen wir selbstbestimmte Studienbedingungen ermöglichen und ich bin mir auch völlig bewusst, dass Studieren heute anders funktioniert als vor zehn, 20 oder gar 30 Jahren. Sprich, Studierende sind heute mit viel mehr unterschiedlichen Belastungen und Anforderungen konfrontiert. Viele müssen neben dem Studium noch arbeiten, um sich das Studium überhaupt finanzieren zu können, und da kann es natürlich auf den ersten Blick eine große Erleichterung sein, wenn man gewisse Freiheitsgrade hat und sich in einigen Bereichen aussuchen kann, ob man Lehrveranstaltungen besucht oder nicht. 

Was würde Ihrer Meinung nach für eine Anwesenheitspflicht sprechen?

Ich glaube, dass das Fehlen von Anwesenheitspflicht  zu einer Reihe von Problemen führen kann. Zunächst mal bezweifle ich, dass  es tatsächlich eine Erleichterung ist, nicht zu einer Vorlesung zu gehen. Eine Tatsache ist ja, dass der Stoff, der in der Vorlesung thematisiert wurde, auch von den Studierenden gelernt werden muss. Dass man sich die Vorlesung spart, heißt ja nicht automatisch, dass man es sich auch sparen kann, die Inhalte zu lernen. 

Könnten die Inhalte nicht auch durch Selbststudium nachgeholt werden?

Die Inhalte im Selbststudium zu lernen ist aus meiner Sicht aber nicht unbedingt einfacher, als sich die Inhalte gut aufbereitet in einer Vorlesung anzuhören. Dort habe ich die Chance, nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe und bekomme dementsprechend einen einfacheren Zugang, als wenn ich mir das Ganze vollständig selbst erarbeiten müsste. 

Welche Konsequenzen hätte es, wenn sowohl der Besuch der Vorlesung, als auch das Selbststudium ausbleiben?

Wenn das Selbststudium entfällt, entstehen einfach Wissenslücken und das ist durchaus etwas, das wir im Bachelorstudium beobachten. Dieses fehlende Wissen führt zu Problemen in nachgelagerten Lehrveranstaltungen. Denn Seminare sind ja eigentlich dazu da, um den Stoff, der in Vorlesungen vermittelt wird, zu vertiefen und darauf aufzubauen. Und im Rahmen solcher Seminare, gerade auch bei Hausarbeiten, stellt sich – das ist zumindest meine subjektive Erfahrung – häufig der Eindruck ein, dass einfach Wissen fehlt, das in den Vorlesungen vermittelt wurde.

Wie denken Sie, werden Universitäten in Zukunft damit umgehen, wenn sich zu starke Wissenslücken bemerkbar machen?

Meine Prognose ist, dass wir an einen Punkt kommen werden, an dem wieder mehr Prüfungs- und Studienleistungen eingeführt werden, um einfach eine Motivation dafür zu schaffen, in Vorlesungen zu gehen. Ob das eine begrüßenswerte Aussicht ist, sei dahingestellt. Wir haben es ja jetzt schon mit einer Situation zu tun, in der durch den Bologna-Prozess eine ganz erhebliche Prüfungs- und Leistungslast auf den Studierenden liegt. 

Sie hatten gesagt, in Hausarbeiten merkt man, dass oft ein Wissensdefizit besteht. Also denken Sie nicht, dass durch die Recherche für die Hausarbeiten, bei der man sich ja auch mit verschiedenen Theorien und Literatur beschäftigt, ausgleichen könnte, dass man nicht in die Vorlesung gegangen ist?

Hausarbeiten sind ja meist stark fokussiert. Es ist zum Beispielselten so, dass Studierende eine Hausarbeit über das gesamte Spektrum der Theorien und Ansätze in der Kommunikationswissenschaft schreibe. Den Überblick über ein Fach und seine Theorien vermitteln vor allem die Vorlesungen. Dieser Überblick ist auch ganz wichtig, um Dinge einordnen zu können. Beispielsweise sehe ich eine Theorie, mit der ich mich in der Hausarbeit beschäftige, vielleicht in einem ganz anderen Licht, wenn ich aus der Vorlesung noch andere Theorien und Forschungserbnisse kenne, die meine Perspektive ergänzen können. Oder ich merke, dass sich eine einzelne Theorie, mit der ich mich in einer Hausarbeit auseinandersetze, in einen breiteren Zusammenhang einordnen lässt. Wenn viele dieser Informationen fehlen, dann geht aus meiner Sicht ein ganz grundsätzlicher und wichtiger Aspekt vom Studieren verloren: Nämlich dass man sich nicht nur mit Mikroperspektiven in Hausarbeiten beschäftigt, sondern auch versucht, den großen Zusammenhang zu sehen und auf der Grundlage von verschiedenen Perspektiven beurteilen zu können. 

Was würden Sie zu einem Studierenden sagen, der behauptet, die Vorlesung sei langweilig oder würde ihm/ihr sowieso nichts bringen?

Zum einen muss ich ganz klar sagen, entspricht das nicht meinen Erfahrungen. Ich glaube ich kann für mich und meine Kolleginnen und Kollegen sagen, dass wir Vorlesungen alle sehr ernst nehmen und dass das ein Bereich ist, der uns am Herzen liegt. Eben weil wir genau wissen, dass dort ganz wichtige Grundlagen für das Verständnis unseres Fachs vermittelt werden. 

Zum andern glaube ich, dass die Einstellung „ich geh da nicht hin, weil es mir nicht gefällt“  nicht zum Bild eines mündigen Studierenden passt. Ich finde, dass Studierende ein Recht auf gute Lehre haben. Für dieses Recht müssen sie aber auch eintreten. Wenn tatsächlich bei der Lehre etwas im Argen liegt, kann es keine Lösung sein, den Kopf in den Sand zu stecken und die Veranstaltung schlicht zu boykottieren. Ändern kann sich nur etwas, wenn Studierende auf mögliche Missstände hinweisen, zum Beispiel im Rahmen von Lehrevaluationen oder vermittelt über die Fachschaft. 

Wie ist das aus Ihrer persönlichen Sicht als Professor, fühlen Sie sich gekränkt oder in Ihrer Arbeit entwertet, wenn Sie merken, es sind nicht so viele Studenten in Ihrer Vorlesung?

Eigentlich gar nicht. Ich kann das – das habe ich vorhin ja auch gesagt – aus der Situation der Studierenden heraus verstehen. 

Für mich als Lehrender hat das sogar angenehme Nebeneffekte. Ich habe durchaus das Gefühl, dass die Studierenden, die zu meinen Vorlesungen kommen, sehr motiviert und auch sehr redebereit sind und dass sich dadurch gute Diskussionen und gute Nachfragen ergeben. Die eigentlichen Probleme ergeben sich erst außerhalb der Vorlesung, wenn später schlicht das Wissen und der Überblick fehlen. 

Viele Studierende fühlen sich jedoch bevormundet und nicht ernst genommen wenn man sie dazu zwingt in Seminaren und Vorlesungen zu sitzen. Wie stehen sie zu den Positionen und Argumenten der Studierenden?

Ich würde mir wünschen, dass Anwesenheit weniger als Zumutung und mehr als Chance und Ressource wahrgenommen würde. Natürlich bedeutet ein Studium viel Arbeit. Es sollte neben all den Anstrengungen aber auch eine schöne und inspirierende Zeit sein. Der Austausch mit Dozenten und Kommilitonen, das gemeinsame Diskutieren und einfach das Zusammensein auf dem Campus sind für mich dabei ganz zentralen Elemente, die es beim Selbststudium mit Büchern, „MOOCs“ oder E-Learning in dieser Form nicht gibt. Auf der anderen Seite sehe ich Anwesenheit aber auch als Teil der Verantwortung von Studierenden. Studieren zu können, ist immer ein Privileg, noch dazu in Deutschland, wo das Studium hochgradig durch Steuergelder subventioniert ist. Die Seminare und Vorlesungen, die Studierenden zur Verfügung stehen, werden also zu einem erheblichen Teil von Menschen mitfinanziert, die selber nie in den Genuss eines Studiums gekommen sind. Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtet, ist Anwesenheit vielleicht gar kein so schlechter Deal. 

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