Wer kennt sie nicht, die Klischees vom technikbegeisterten Jungen und dem einfühlsamen Mädchen, das sich für Lyrik begeistern kann, aber Algebra fürchtet? Unsere Alltagserfahrungen scheinen diese Vorurteile oft zu bestätigen – auch im Studium.
Als Publizistik-Studentin kann man seine männlichen Kommilitonen gefühlt an einer Hand abzählen. Begibt man sich jedoch auf die andere Seite des Campus, dorthin, wo Informatik und Physik gelehrt wird, ändert sich das Bild. In diesen Fächern scheint das umgekehrte Verhältnis zu herrschen.
Tatsächlich ist es so, dass beispielsweise die Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaften an der Uni Mainz einen Anteil an Studentinnen von 80 Prozent aufweisen, während Frauen im Fachbereich Physik, Mathematik und Informatik nur 31 Prozent der Studierenden ausmachen.
Und auch wenn man sich das Geschlechterverhältnis im Hinblick auf das Personal (Professoren, Dozenten, wissenschaftliche Mitarbeiter) der einzelnen Fachbereiche ansieht, bestätigt sich das Bild. Den geringsten Frauenanteil hatte 2013 der Fachbereich 08 (Physik, Mathematik und Informatik): Nur 17 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter waren Frauen. Unter den Professoren und Dozenten waren es sogar nur elf Prozent. Im Fachbereich 06 (Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaften) arbeiten dagegen mit 57 Prozent Professorinnen und Dozentinnen sowie 55 Prozent wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen die meisten Frauen (Stand: 2013; Quelle: JGU Zahlenspiegel 2013).
Jeder, der bereits vor der Studienwahl stand, hat sicherlich von den sogenannten MINT-Fächern gehört – eine Abkürzung für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Besonders junge Frauen werden aufgefordert, eines dieser viel beschworenen Fächer zu studieren, um den Frauenmangel im MINT-Bereich zu bekämpfen. Genau genommen ist es aber so, dass der Frauenanteil sowohl innerhalb der MINT-Fächer, als auch unter Nicht-MINT-Fächern von Fach zu Fach stark variiert. So studieren in den USA beispielsweise überdurchschnittlich viele Frauen Mikrobiologie, während die Frauen im Fach Philosophie unterrepräsentiert sind. In Mainz scheint sich dieses Bild zumindest teilweise zu bestätigen: Im Wintersemester 2014/2015 waren die Frauen in Biologie mit 63 Prozent in deutlicher Überzahl. In Philosophie macht der Frauenanteil dagegen nur 47 Prozent aus.
Auch innerhalb des MINT-Bereiches ist das Geschlechterverhältnis an der JGU unterschiedlich: Ist es in Mathematik mit 46 Prozent Studentinnen zumindest annährend ausgeglichen, bestätigen Physik und Informatik hier das Klischee: Dort liegt der Anteil weiblicher Studierender nur bei 19 Prozent bzw. 18 Prozent. (Stand: WiSe 2014/2015; Quelle: Planung und Controlling Uni Mainz).
Eine kürzlich veröffentlichte Studie eines Teams rund um die Philosophin Sarah-Jane Leslie liefert für diese Unterschiede eine mögliche Erklärung. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die sogenannte field-specific ability beliefs-Hypothese. Es geht darum, welche Anforderungen von einem Fach erwartet werden: Wird angeborenes Talent als essenziell angesehen, um erfolgreich zu sein? Oder sind dafür vor allem Arbeit und Fleiß von Bedeutung?
Die Hypothese der WissenschaftlerInnen lautet, dass die Ansicht, ein bestimmtes Fach erfordere angeborenes Talent, dazu führe, dass Frauen in diesem Fach unterrepräsentiert seien. Das läge daran, dass Frauen in unserer Gesellschaft nicht mit angeborener Genialität in Zusammenhang gebracht würden – ganz im Gegensatz zu Männern. Dies wiederrum führe dazu, dass sich Frauen bestimmte Studienfächer nicht zutrauten.
In ihrer Studie berufen sich die Forscher auf eine Befragung von PostdoktorandenInnen und Studierenden im Aufbaustudium aus 30 Disziplinen, darunter sowohl MINT-Fächer, als auch Sozial- und Geisteswissenschaften. Neben ihrer Hypothese prüften die Wissenschaftler zusätzlich alternative Erklärungen, zum Beispiel geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich der Bereitschaft, lange und viel zu arbeiten. Leslie und ihr Team sehen ihre These durch ihre Ergebnisse als bestätigt an. Demnach bevorzugten Frauen Fächer, die – nach allgemein verbreiteter Vorstellung – nicht Genialität, sondern vor allem Fleiß erfordern, um erfolgreich zu sein.
Ist die Ansicht Fächer wie Physik seien nur etwas für Genies (und diese wiederrum seien meist männlich) wirklich der Grund dafür, dass so wenig junge Frauen Physik, Informatik, Chemie, etc. studieren? Und wie ergeht es Frauen in vermeintlichen Männerdomänen wie Physik?
Campus Mainz war im Neubau Chemie unterwegs und hat Studentinnen der MINT-Fächer nach ihren Erfahrungen befragt. Was positiv auffällt: alle geben an, mit ihrem Studienfach zufrieden zu sein und keine besonderen Schwierigkeiten zu haben. Gewählt haben die befragten Studentinnen ihr Fach hauptsächlich aus Interesse. Mathe habe ihr „schon immer viel Spaß“ gemacht, erklärt eine Lehramtsstudentin (Mathe und Chemie). Wenn es darum geht, was damals die Alternative zum gewählten Fach gewesen sei, wird meist eine andere Naturwissenschaft angegeben. Viele Studentinnen in MINT-Fächern scheinen also allgemein eine Affinität für Naturwissenschaften zu haben. Zweifel, ob ein klassisches Frauenfach nicht vielleicht besser geeignet gewesen wäre, hatte keine der befragten Studis. Und auch negative Reaktionen habe es bei ihnen nicht gegeben. Eine Physik-Studentin erzählt, die Reaktionen seien teilweise „erstaunt“ gewesen, was „lustig zu beobachten“ gewesen sei.
Die Gründe für den Frauenmangel schätzen die Studentinnen verschieden ein. Einige vermuten, es läge schlichtweg an mangelndem Interesse. Viele wollten vielleicht „schönere Sachen“ machen, „etwas Ästhetisches, was hier auf den ersten Blick nicht zu sehen ist“, mutmaßt eine Studentin der Biomedizinischen Chemie (BMC). Andere wiederum fragen sich, ob diese Fächer Frauen möglicherweise generell nicht liegen: „Man braucht auch eine andere Art zu denken“, erklärt die Physik-Studentin. Eine BMC-Studentin ist der Ansicht, Frauen seien vielleicht immer noch stärker in den Geisteswissenschaften. Ihnen lägen mehr die Sprachen und die Kommunikation, während Männer vor allem im rationalen Denken stark seien. Interessanterweise geben also selbst MINT-Studentinnen die Vorurteile von Interessens- und Begabungsunterschieden zwischen Männern und Frauen wieder. Ist an den Klischees doch etwas dran?
Das fehlende Interesse sei sicherlich nicht das Grund für das unausgeglichene Geschlechterverhältnis, sagt Verena Halfmann, die zusammen mit zwei Kolleginnen Ada Lovelace an der Uni Mainz leitet. Das Ada Lovelace-Projekt hat es sich zum Ziel gesetzt, junge Frauen für MINT-Fächer zu begeistern und sie im Studium zu unterstützen. Interesse sei grundsätzlich da, es gehe vor allem darum, dieses zu halten. In der fünften, sechsten Klasse seien die meisten Mädchen noch sehr interessiert. In der Mittelstufe gehe dieses Interesse jedoch oft verloren, erklärt Halfmann. Grund dafür sei vor allem, dass der Schulunterricht in den Naturwissenschaften sich zu wenig an der Lebenswelt der Mädchen orientiere.
Das ist jetzt zwar sehr plakativ, aber Mädchen interessieren sich nun mal weniger für ein schnelles Auto, da kriege ich die Jungs einfach mit und die Mädchen, die muss ich anders abholen. Man muss einfach sehen, was ist die Welt der Mädchen? Mädchen, wollen was bewegen, die wollen was ändern, die sind sehr sozial, die wollen meist was mit Menschen machen.
So sei Umweltschutz beispielsweise ein Mädchenthema. An solchen Themen müssten die Naturwissenschaften ansetzen und die Mädchen in ihrer Lebensrealität abholen, sagt Halfmann: „Wenn man es schafft Naturwissenschaft und Technik in einen interessanten Gesamtzusammenhang zu bringen, dann begeistert man die Mädchen.“
Sie kritisiert außerdem, dass Schulbücher immer noch zu sehr Klischees bedienen und Mädchen ausschließen würden:
Hier liest man immer von `dem Handwerker´, `dem Mechaniker´, `dem Informatiker´. Diese Sprache ist in den Büchern so, dass ich als Mädchen gar nicht wirklich auf die Idee komme, dass das etwas für mich wäre. Hätte ich da aber– überspitzt formuliert – eine Astronautin, die sich für den Umweltschutz einsetzt, wär das für die Mädchen was ganz anderes.
Insgesamt fehle bei Mädchen meist die Idee, dass ihnen ein Fach wie Physik oder Mathematik Spaß machen könnte. Auf die Idee, etwas in diesem Bereich zu studieren, kämen sie oft gar nicht, auch wenn sie in der Schule gut darin seien.
Auch mangelnde Unterstützung durch die Familie könnte eine Rolle spielen. Die Bedeutung des sozialen Umfelds zeigt sich auch in den Erzählungen einiger der befragten MINT-Studentinnen. Daniela studiert Physik und Chemie auf Lehramt und ist Mentorin bei Ada Lovelace. Sie erzählt, die Unterstützung durch ihre Eltern sei von Anfang an groß gewesen.
Schon früh sei sie physikbegeistert gewesen, vor allem Astronomie habe sie „echt gecatcht.“ Ihre Eltern hätten sie in ihren Interessen bestärkt und gefördert. So sei ihr Vater beispielsweise regelmäßig mit ihr zu Veranstaltungen zum Thema Astronomie gegangen. Das habe ihr Interesse „wach gehalten“. Mit ihrer Familie habe sie wirklich Glück gehabt, sagt Daniela, – ein Glück, das sicherlich nicht alle Mädchen hätten.
Offenbar spielt auch der Aspekt der Familienfreundlichkeit eine Rolle. Eine Pharmazie-Studentin erzählt, ihr Fach sei ein richtiges Frauenfach, was daran läge, dass Apothekerin ein sehr familienfreundlicher Job sei. Obwohl das Fach auch auf die Forschung vorbereitet, arbeiteten Absolventinnen ihrer Erfahrung nach überwiegend in Apotheken, während männliche Absolventen eher in die Forschung gingen.
Auch bei Ada Lovelace ist die Vereinbarkeit von Kind und Karriere ein Thema. Dies gelte vor allem für Doktorandinnen, für die das Ganze eben auch von der Lebensphase sehr nah sei, erklärt Verena Halfmann. Und auch hier dominieren scheinbar immer noch traditionelle Bilder.
Helena Rapp, ebenfalls Projektleiterin bei Ada Lovelace an der JGU, erzählt, dass sie die immer noch vorhandenen Rollenbilder zurzeit selbst erlebt. Sie promoviere gerade und werde daraufhin häufig gefragt, wie sie das denn später mit dem Kind machen wolle. „Und da sieht man auch das gesellschaftliche Phänomen, denn die Frauen denken für sich, aber jedes Kind hat einen Vater.“, sagt Verena Halfmann. Die Frage, wer sich um das Kind kümmert, müsse nicht nur die Frage der Frau sein. Dies sei allerdings etwas, dass sich nicht nur in den Männer-, sondern auch in den Frauenköpfen ändern müsse.
Veraltete Klischees und Rollenbilder sind in unserer Gesellschaft also offensichtlich immer noch vorherrschend, wenn es um Fähigkeiten, um Begabung und Berufung, um Karriere und Kinder geht. So wie Hochbegabung beispielsweise immer noch vorwiegend mit Männern in Zusammenhang gebracht wird, sogar von Studentinnen vermeintlicher Männerfächer selbst. Diese Vorstellungen seien einfach noch in den Köpfen der Menschen vorhanden, sagt Verena Halfmann:
Auf der einen Seite gibt’s viele junge, aufgeklärte Frauen, die das einfach ganz anders sehen und die dieser Welt – zum Glück – immer seltener begegnen. Aber, gehe ich in Entscheidungsebenen, gehe ich in große Firmen, in Gremien, in Vorstände, dann sind da eben oft noch andere Generationen. Das ist was, was sich noch ein bisschen ablösen muss.
„Und das ist auch genau die Aufgabe unserer Generation, zu sagen, dass wir diese Bilder noch weiter auflösen müssen.“, ergänzt Helena Rapp.
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