Zu Studienzwecken nach Italien zu fliegen hört sich erstmal verlockend an, besonders gegen Ende des chronisch gewittrigen Juni, den uns 2016 bis dato brachte. Das Seminar "Einführung in die filmwissenschaftliche Praxis", das sich mit potenziellen Berufsfeldern und der physischen Beschaffenheit des Mediums Film auseinandersetzt, bot die Gelegenheit einer thematisch in das Seminar eingebetteten Exkursion.
Also ab in den Flieger und auf nach Bologna, wo das Festival Il Cinema Ritrovato vom 25. Juni bis zum 2. Juli Klassiker und Wiederentdeckungen der Filmgeschichte wiederaufleben ließ. Eine der bedeutendsten Filmarchivorganisationen der Welt, die Cineteca di Bologna organisiert das zu den größten seiner Art gehörende Event im jährlichen Turnus. Dieses Jahr markierte bereits die dreißigste Ausgabe.
Natürlich bedeutete ein Filmfestivalbesuch auch, einen großen Teil seines Tages in dunklen Kinos zu verbringen. Dafür entschädigte jedoch Abend für Abend ein Freiluftkino in ganz großem Stil. Im Ambiente des Piazza Maggiore ließ sich hier mit großen Zuschauermassen und Werken wie Chaplins "Modern Times" (USA 1936, inklusive beeindruckender Live-Orchester-Begleitung), der Tag beschließen.
Neben akkreditierten Festivalbesuchern nahmen an den abendlichen Screenings täglich auch Aberhundert Menschen der Lokalbevölkerung teil. Tagsüber spielte sich das Festivalgeschehen bevorzugt in und um das Festivalzentrum herum ab.
Im Sala Auditorium standen vor allem Workshops, Vorträge und Gespräche im Vordergrund, während in vier anderen Kinosälen von morgens neun Uhr bis abends um zwölf Uhr kontinuierlich Filme zu sehen waren. Ein respektabler Teil der gezeigten Werke waren Erstaufführungen frischer Restaurierungen.
Einige Projektionen entsprangen sogar noch einer waschechten 35mm-Kopie auf echtem Filmmaterial, was dieser Tage eine Rarität darstellt. Denn die Digitalisierung hat auch vorm Film nicht Halt gemacht und neben Produktion auch die Distribution erfasst. Kinos mussten dementsprechend reagieren, digital aufrüsten und sind nun zumeist gar nicht mehr in der Lage, schon wenige Jahre alte Filme zu zeigen, sofern diese nicht digitalisiert wurden.
Zeigte das Festival Stummfilme, wurden die Werke häufig auch von Live-Musik-Elementen begleitet. Sämtliche der gezeigten Filme gehörten einer von Experten kuratierten Reihen an, die das Festival strukturierten und thematische Schwerpunkte setzten. So gab es beispielsweise eine Reihe zum frühen japanischen Farbfilm ebenso wie eine Retrospektive zum Schauspieler Marlon Brando.
In einer anderen Reihe wurde etwa versucht, eine alternative Geschichte des argentinischen Films aufzuzeigen, indem Filme präsentiert wurden, die in der Filmgeschichtsschreibung des Landes im Regelfall weniger Beachtung finden. Diese Organisation der Filmreihen bietet dem Zuschauer ein Mindestmaß an Struktur, lässt ihn aber dennoch, falls gewollt, sehr unbedarft an die Filme herangehen.
Das Publikum war sehr international: Europäer trafen auf Amerikaner, Kulturbetriebs-Akteure auf Cinephile. Für eben jene Kulturszene ist Il Cinema Ritrovato eine Bilderbuchveranstaltung. Die Aufarbeitung, der Erhalt und die Zugänglichmachung des filmhistorischen Erbes ist für das Festival eindeutig ersichtlicher Fokus und Triebfeder.
Die Aufgabe der Bewahrung des Kulturgutes Film ist ein sehr komplexes Problem, geschuldet vor allem der komplizierten Materialität des Mediums und dem beizeiten geringen politischen Willen, sich damit angemessen auseinanderzusetzen. Il Cinema Ritrovato schaffte es auf ansprechende und auch für Studierende bezahlbare Art, dieser Arbeit eine Plattform zu bieten. Damit betreibt das Festival in gewisser Weise Lobby-Arbeit für ein starkes filmgeschichtliches Bewusstsein und die Wertschätzung des Kulturgutes. Vor allem aber schafft es das, was das Ziel aller Arbeit am Film ist: ihn ins Kino zu bringen.
Deswegen seien an dieser Stelle auch noch einige Highlights eben dieser Kinoerfahrungen genannt. Da wäre zum Beispiel "Who's Krazy" (USA 1966), ein vor 50 Jahren in Cannes uraufgeführter Film, der lange verschollen war. Das völlig abstruse, fast dialoglose Szenario wird von einem ebenso abseitigen Ornette Coleman-Soundtrack zusammengehalten - eine interessante Grenzerfahrung.
Oder Jean Epsteins "La Chute de la Maison Usher" (Frankreich 1928), ein Stummfilm, dessen außergewöhnlich assoziative und suggestive Montage direkt am ersten Festivaltag große Lust auf das frühe Kino aufkommen ließ.
Es gibt aber auch Höhepunkte wie "Memorias del subdesarollo" (Kuba 1968), ein sehr ansprechender Film, der klare Parallelen zum französischen Kino Anfang der 60er aufweist oder "Historia de una Noche" (Argentinien 1940), ein wirklich unterhaltsames Werk, das dem klassischen Hollywoodfilm faszinierend nahe steht. Diese Filme veranschaulichen in ihrer Beschaffenheit internationale Austauschprozesse in der Welt des Films, Austauschprozesse, für die auch Il Cinema Ritrovato steht.
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