Erasmus vs. Gutenberg: Ein Zwillingstest

16.05.2017
Studium, Internationales
Gastbeitrag: Elena & Rebecca Reinhard

Gehen oder nicht gehen – das ist hier die Frage! Viele Studis denken über ein Auslandssemester nach. Die Zwillinge Elena und Rebecca haben es ausprobiert (das Weggehen und das Dableiben) und berichten nun, ob es sich lohnt.

Reisefieber liegt in der Luft

Drittes Semester, Erasmus-Infoveranstaltung. In der brechend vollen Alten Mensa werden Destinationen für das potentielle Auslandssemester vorgestellt. Man braucht nicht viel Empathie um zu wissen: Hier liegt Reisefieber in der Luft. Spanien, Italien, Prag oder Budapest – es kommt uns vor, als würde plötzlich jeder ins Ausland wollen - nur um irgendwann sagen zu können: „Damals, als ich in Frankreich gelebt habe…“.

Von denen, die nicht gehen wollen, ist nur ein erschöpftes „Ach, ich habe schon nach dem Abi die halbe Welt bereist, ich muss nichts mehr aufholen“, zu hören.

Gehen wir doch einfach zusammen

Doch für diejenigen, die Europa bisher nur vom Strandurlaub kennen - uns eingeschlossen - erhöht sich der Druck, je näher die Anmeldefrist rückt: Soll ich nun ins Ausland gehen oder nicht? Denn Hand aufs Herz: Die weite Reise erfordert nicht nur Reiselust, sondern auch eine große Portion Mut. Also: Gehen wir einfach zusammen! Nach Bordeaux soll es gehen. Und zwar im fünften Semester. Triumphierend tüfteln wir unseren Masterplan aus: Jeden Tag Party, eine gemeinsame WG und ganz nebenbei werden wir perfekt Französisch sprechen, wenn wir erstmal zurück sind.

Doch man ahnt schon: Unser Plan hinkt. Statt uns beiden wird nur Elena angenommen. Sollen wir uns nun zum ersten Mal im Leben trennen? Nach einigen schlaflosen Nächten und motivierenden Worten anderer Ex-Erasmus-Studis füllt Elena schließlich die 315 Erasmus-Formulare aus, geht 187 Mal ins Studienbüro und packt schließlich ihre Koffer. Ziel: Bordeaux, Frankreich.

Ein Studium wie aus einem Überraschungsei

Statt den immer gleichen Dozenten, der wöchentlichen Asia-Pfanne in der Mensa und einer überfüllten Bib erwarten eine von uns nun viele neue Gesichter, neue Fächer und ein neuer Speiseplan. Elena hatte sich ein Studium wie aus dem Überraschungsei erhofft: alles neu, alles aufregend, alles toll. Doch jeden Tag im fremden Land wird ihr klarer: den bequemeren Weg hatte gewiss Rebecca gewählt. Mit einem durchgeplanten Semester und einem sicheren Zuhause, dafür ohne nervige Zettelwirtschaft, böse Überraschungen. Vor allem das mit dem Zuhause hat bei Elena in Bordeaux so gar nicht hinhauen wollen. Erst nach fünf - ja fünf! - Umzügen hatte sie endlich ein Quartier für die nächsten drei Monate gefunden.

Auch die Uni ist nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Kein schickes grünes Gebäude, sondern Plattenbauten à la DDR, die eher an eine heruntergekommene Hauptschule als an eine Uni erinnern. Dazu viele neue Fächer und fünf Hausarbeiten.

Man muss sich nicht nach Klischees richten

Naja. Dafür tummeln sich bei der Erasmus-Begrüßungsveranstaltung zahllose Studenten aus aller Welt, die alle riesige Lust haben, neue Freunde zu finden. Schnell findet man sich in einer Gruppe Menschen aus zig Nationalitäten wieder, mit denen man das kommende Semester verbringen wird. So weit die Idee, die Elena im Kopf hatte. Letztendlich waren ihre drei besten Freunde in Bordeaux aber weder Franzosen, Kolumbianer oder Schweden, sondern Studierende aus Gießen. Aber hey – wer sagt, dass man sich nach Klischees richten muss?

Freunde glänzen mit Abwesenheit

Rebecca hat derweil mit dem Gegenteil zu kämpfen – denn statt allerhand neuen Freunden glänzen die bekannten Gesichter in Mainz vor allem mit Abwesenheit. Wo sich alle aufhalten? Im Ausland natürlich. Es gilt also, alleine in die Vorlesung zu gehen und beim Mittagessen geschäftig auf dem Handy herumzutippen. Bald jedoch scheint die Tristesse die Gewohnheit abzulösen und Selbstzweifel machen sich bemerkbar: Werde ich nie mitreden können, wenn es um Auslandserfahrungen geht? Wenn „the time of my life“ nichts weiter als ein Malle-Urlaub mit Freunden war? Was werden Arbeitgeber sagen, wenn ich keinen Auslandsaufenthalt im Lebenslauf vorweisen kann? Werde ich überhaupt noch ernst genommen? Denn irgendwie scheint ja mindestens ein Erasmus-Aufenthalt zum guten Ton zu gehören.

Zwillingsfazit

Was wir letztlich daraus gelernt haben: Man sollte vor allem eines vermeiden: sich unnötig unter Druck setzen zu lassen – sei es von schwärmenden Kommilitonen oder strengen Karriere-Beratern. Ein Auslandssemester mit jeder Menge Partys, Affären und ohne Uni-Stress wird es in den meisten Fällen sowieso nicht.

Trotzdem lernt man im Auslandssemester unglaublich viel über sich selbst, macht Erfahrungen und lernt, Entscheidungen zu treffen. Dass nebenbei der Lebenslauf aufgemöbelt, die Facebook-Freundesliste erweitert und neue Sprachkenntnisse gewonnen werden, ist da natürlich willkommener Beifang. Wer dennoch weiter mit der Entscheidung hadert, dem sei gesagt, dass letztlich nur das eigene Bauchgefühl zählt. Und das kann durchaus auch zuhause in Mainz gut sein.

 

Dieser Artikel wurde in ähnlicher Form im Publizissimus, der studentischen Institutszeitung der Publizisten, im Wintersemester 2016/17 veröffentlicht. Die Bearbeitung für die Redaktion von campus-mainz.net übernahm Daniel Böcher. Dem Publizissimus kann man auf Facebook und Instagram folgen.

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