Das Potenzial und die Fallstricke der Gendermedizin

15.12.2020
Studium, Arbeit
hra

Dass Frauen und Männer sich in vielem unterscheiden, ist offensichtlich. Doch in der Medizin wurden sie lange gleich behandelt. Das führte zu Fehldeutungen von Symptomen und schlecht vertragenen Therapien.

Die typischen Symptome eines Herzinfarktes kennen viele: stechende Brustschmerzen, Atemnot und Übelkeit. Doch sind diese wirklich typisch? Typisch Mann auf jeden Fall, denn bei Frauen zeigt sich ein Herzinfarkt oft unspezifischer, etwa mit Luftnot oder Übelkeit, und wird daher weniger häufig diagnostiziert.

Aufgrund von Bedenken* über Experimente, die eine momentane oder auch kommende Schwangerschaft und somit das Kind beeinträchtigen, waren Frauen stets kaum in klinischen Studien einbezogen. Des Weiteren bringen Frauen aufgrund ihres hormonellen Zyklus mehr Komplexität in die Auswertung der Studie und viele vertraten die Annahme, dass Frauen auf Medikamente genauso wie Männer reagieren würden. Die Folge: Frauen erfahren 1,5-mal häufiger* Nebenwirkungen als Männer.

Schließt man Frauen jedoch aus, riskiert man ihre Gesundheit. Im schlimmsten Fall kann das sogar lebensgefährlich sein. Das häufig verschriebene Herzmedikament Digoxin verkürzte etwa die Lebenszeit der herzkranken Frauen, die der Männer jedoch nicht. Nach der Einnahme des Schlafmittels Zolpidem am Abend kam es bei Frauen am nächsten Tag außerdem signifikant häufiger zu Verkehrsunfällen.

Wieso reagieren Frauen anders auf Medikamente als Männer?

Das biologische Geschlecht ist durch die X- und Y-Geschlechtschromosomen in jeder unserer Körperzellen festgelegt. Die Informationen dieser Chromosomen beeinflussen* das Immunsystem, die Hormonproduktion, den Stoffwechsel und den Herz-Kreislauf. Aufgrund dieser Unterschiede wirken Medikamente bei Frauen anders*. 

Zudem steigert das weibliche Hormon Östrogen die Reaktion des Immunsystems, weshalb Frauen bei viralen Infekten meist einen milderen Krankheitsverlauf haben. Es wird vermutet, dass die stärkere Immunantwort im Laufe der Evolution dazu diente, den Nachwuchs über die Muttermilch vor Infektionen zu schützen. Allerdings erkranken Frauen durch diese gesteigerte Immunantwort auch häufiger an Autoimmunkrankheiten, bei denen das Immunsystem gegen körpereigene Stoffe reagiert.

Männer hingegen erleiden sehr viel häufiger einen plötzlichen Herztod als Frauen. Vor allem in der Kardiologie gibt es viele Unterschiede* zwischen den Geschlechtern, weshalb in diesem Bereich auch schon einiges erforscht* wurde: Das Frauenherz ist kleiner und weniger dehnbar. Die häufigste Herzrhythmusstörung Vorhofflimmern kommt sehr viel häufiger* bei Männern vor.

Nachteile gibt es jedoch auch für Männer

Osteoporose, also eine zu geringe Knochendichte, gilt dagegen als "Frauenproblem". Medikamente gegen Osteoporose werden daher ausnahmsweise häufiger an Frauen getestet, sodass diese bei Männern möglicherweise* nicht genauso gut wirken. Die Krankheit wird bei Männern zudem häufig später diagnostiziert* als bei Frauen.

Obwohl Frauen und Männer sich zudem gleich häufig mit dem Coronavirus anstecken, ist ein stärkerer Krankheitsverlauf bei Männern zu erkennen. Es kommt häufiger zu Todesfällen. Bis zum 8. Dezember starben insgesamt 1.635 Menschen im Alter von 60 bis 69 Jahren an Covid-19, 1167 – also 71 Prozent – davon waren männlich. Wieso genau Männer anscheinend einen stärkeren Krankheitsverlauf haben, ist noch nicht genau erforscht.

Unterschiede mit Potenzial

Bei vielen Krankheiten ist noch unklar, wieso sie bei Männern und Frauen anders ablaufen. Mit einem tieferen Verständnis der Geschlechterunterschiede können nicht nur Therapien auf den jeweiligen Patienten, ob Mann oder Frau, angepasst und sicherer gemacht werden, sondern auch möglicherweise neue Behandlungstechniken entdeckt werden. Wissenschaftler:innen der Gendermedizin erforschen konkret diese Geschlechtsunterschiede.

"Möglicherweise könnte man körpereigene Stoffe, die beispielsweise eine Frau vor dem plötzlichen Herztod schützen, als Therapieansatz für ein Medikament für die Männer nutzen", meint Prof. Vera Regitz-Zagrosek, Kardiologin und Professorin an der Charité Berlin. Die Unterschiede können also auch gewinnbringend in der Wissenschaft genutzt werden – wenn sie sich dieser bewusst ist.

 

* Anm. d. Red.: Dieser Quellenverweis wurde nachträglich eingefügt.

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