#Ausland | Vom commentaire composé und anderen Herausforderungen

24.01.2018
Internationales, Studium
ch

Seit Oktober studiert Cédric in Dijon, Frankreich und schreibt im zweiten Teil seines Auslandsblogs über den turbulenten Semesterstart und andere Herausforderungen.

Es ist schon fast drei Monate her, dass ich das letzte Mal aus Dijon berichtet habe, und da war ich noch nicht einmal richtig angekommen. Es wird also höchste Zeit, Bilanz über die ersten Monate in Frankreich zu ziehen.

Wieder Ersti sein

Aller Anfang ist schwer, sagt man – so auch in Frankreich, wo das Semester für mich gleich mit einem Kulturschock beginnt. Während in Deutschland schon gefühlt mehrere Ewigkeiten im Voraus das exakte Datum des Semesterbeginns und die Kurse, die man belegen wird, feststehen, bekommen wir hier nur die vage Information, dass Anfang September irgendetwas passieren wird. Tatsächlich werden dann irgendwann die Termine zu den Einführungsveranstaltungen veröffentlicht. Zum besseren Verständnis folgt ein kurzer Crashkurs über das französische Unisystem: In Frankreich sind Studiengänge mit Haupt- und Beifach nicht üblich und wir im integrierten Studiengang deshalb ein Spezialfall, weil wir trotzdem Kurse aus beiden Fächern belegen. Da man nicht die Möglichkeit hat, seine Kurse individuell zu wählen, sondern wie in der Schule nach einem vorgegebenen Stundenplan studiert, kann es unglücklicherweise auch zu Überschneidungen kommen.

Das wissen wir zwar schon alles, dennoch trifft uns der Semesteranfang mit voller Wucht. Nachdem bürokratische Hürden wie die Einschreibung an der Uni (die wie vieles andere auch auf Papier stattfindet) überstanden sind, hoffen wir bei den Einführungsveranstaltungen unsere Stundenpläne und Informationen zu bekommen, welche Kurse wir belegen müssen. Die Stundenpläne sind aber noch nicht fertig (und werden es bis Freitag vor Vorlesungsbeginn auch nicht sein). Die Modulpläne für die Studierenden aus Mainz sind auch noch provisorisch, da die französische Prüfungsordnung momentan verändert wird. Es herrscht also große Ungewissheit und niemand weiß so recht Bescheid. Den Widrigkeiten zum Trotz werden alle Anfangsschwierigkeiten gemeistert, auch wenn ich mich oft wie ein Ersti fühle, der nicht weiß, wo er hin muss.

Verschnaufpause

Langsam gewöhne ich mich an das französische System mit seinen Eigenheiten, seinen Vorlesungen und Seminaren, in denen es eigentlich ausschließlich die Dozenten und Dozentinnen sind, die reden, und die Studierenden versuchen jedes einzelne Wort mitzuschreiben. Es ist schwer mit französischen Studis Kontakt aufzubauen, einerseits weil sie nach den Veranstaltungen immer sofort weg sind, andererseits weil sie im letzten Jahr schon ihre Grüppchen gebildet haben. Es geht mir in der Hinsicht also ganz genauso wie dem Neuen in der sechsten Klasse. Deswegen setzt man sich zu den anderen Deutschen, die man aus Mainz kennt und redet Deutsch mit ihnen. An manchen Tagen ist also das einzige Französisch, das ich spreche, ein „Bonjour, une baguette s’il vous plaît“ beim Bäcker. Doch auch das wird mit der Zeit besser. Ich finde eine Laufstrecke den Kanal entlang und um den Lac Kir, was einem das Gefühl gibt zuhause zu sein, auch wenn die Strecke dem Rheinufer nicht das Wasser reichen kann. Das erste Referat geht erfolgreich, wenn auch mit außergewöhnlich großem Lampenfieber über die Bühne, genauso wie ein paar kleinere Tests, die während des Semesters stattfinden. Ende Oktober haben wir eine Woche Ferien, die ich für einen herbstlichen Roadtrip mit Freunden an die Atlantikküste nutze.

Dramatischer Höhepunkt des Semesters

Das Leben könnte also so weitergehen wie überall sonst auch, in seinem plätschernden Rhythmus aus Vorlesungen, Seminaren, zwei Mal wöchentlich Unisport und Abenden in Bars, in denen der halbe Liter Bier sieben Euro kostet. Wäre da nicht der commentaire composé und damit mein zweiter Exkurs über das französische Universitätssystem. Der commentaire composé, ist neben der dissertation und der explication de texte eine der schriftlichen französischen Prüfungsformen in geisteswissenschaftlichen Fächern. Die Aufgabe: einen vorgegeben Textausschnitt (hier der mittelalterliche Roman Le Conte du Graal von Chrétien de Troyes, was die Sache leider nicht unbedingt vereinfacht) analysieren und interpretieren. Was im ersten Moment nach einer Art Hausarbeit klingt, entpuppt sich als Herkulesaufgabe. Das Problem: Der commentaire, so wie die anderen französischen Prüfungsformen auch, verlangen, dass man seine Gedankengänge in drei Punkte mit jeweils drei Unterpunkten organisiert und für das Ganze eine problématique, eine Art Interpretationsansatz formuliert. Die einzelnen Teile sollen dabei progressiv, kohärent und gleich lang sein und die Vorgehensweise ist rigider vorgeschrieben als die Formulierung eines Gesetzestexts. Gnade dem, der die einzelnen Teile der Einleitung vertauscht. Die Arbeit mit Quellen spielt dabei keine Rolle, zitiert wird in Frankreich frühestens im Master.

Nachdem ich zwar am Donnerstag (vor der Abgabe am Dienstag) angefangen und auch das restliche Wochenende, Apfelmus löffelnd, damit verbracht habe, über meinen commentaire zu grübeln, steht bis Samstagabend nicht mehr als eine provisorische Einleitung. Deshalb treffe ich mich am Sonntagvormittag mit meiner Kommilitonin Pauline um das Problem in Angriff zu nehmen. Da sitzen wir also mit dem Laptop auf dem Schoß, umgeben von Papier. Der Textausschnitt ist in fünf verschiedenen Farben markiert und mit vielen schlauen Gedankenfetzen und noch mehr übersetzten Vokabeln vollgeschrieben. Jetzt müssen wir die ganze Vorarbeit nur noch in einen Plan – die Gliederung bestehend aus drei mal drei Teilen – gießen. Aber dazu bräuchte man erstmal die problématique. In dem sehr archaisch wirkenden Word-Dokument vor uns stehen aber ein gutes Dutzend davon, hauptsächlich Neuformulierungen der gleichen Idee. Also spielen wir eine ganze Weile Ping Pong mit unserer möglichen problématique und unserer Gliederung, ohne uns von der Stelle zu bewegen. Wir bekommen Hunger, machen in der WG-Küche Wraps mit so vielen Zutaten wie möglich, um uns ein wenig von der Arbeit abzuhalten und scherzen, dass notfalls noch Reste für den Mitternachtssnack bleiben. Viele Versuche irgendetwas Schlüssiges aufs Papier zu bringen und einer kopfauslüftenden Runde um den Block später gibt es dann tatsächlich Abendessen. Wir haben keine Idee, was wir noch machen sollen. Rien ne va plus, nichts geht mehr. Es ist 21 Uhr und wir vertagen das mit dem commentaire auf morgen.

Am Montag setze ich mich zwischen den einzelnen Vorlesungen immer wieder in die Bibliothek. Irgendwas muss jetzt aufs Blatt – egal wie gut oder schlecht es wird. Satz für Satz taste ich mich voran. Um acht Uhr abends schließt die bibliothèque, ungewöhnlich früh aus deutscher Perspektive. Bis dahin stehen immerhin die meisten Teile, wenn auch nur auf wackeligen Beinen. Um kurz nach Mitternacht ist dann endlich ein commentaire zustande gekommen, auf den ich zwar nicht stolz bin, aber den ich bereit bin abzugeben. Wäre ich jetzt in Deutschland, würde ich kurz den Drucker anwerfen, meine Arbeit ausdrucken und eine Viertelstunde später friedlich im Bett schlummern. Aus absolut unerklärlichen Gründen muss der commentaire aber handgeschrieben abgegeben werden. Und so verbringe ich noch ein paar Stunden damit, meinen Ausdruck auf Doppelbögen mit einer lustigen französischen Lineatur zu übertragen, während die Welt um mich herum schläft. In den folgenden Wochen ist auch noch eine explication de texte abzugeben, deren Entstehung ähnlich katastrophal abläuft, und eine dissertation, bei der mein Gefühl immerhin etwas besser ist. Egal, hauptsache abgegeben und nun abwarten, wie das Ergebnis wird. Mein neues Lebensmotto könnte lauten: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Ce qui ne me tue pas, me rend plus fort.

Das Leben geht wieder weiter, draußen wird es kälter und kälter und dann ist es auf einmal Dezember. Die ersten Kurse hören schon Mitte des Monats auf, weil direkt nach Weihnachten die zweiwöchige Prüfungsphase stattfindet und die Länge des Semesters aufgrund von Sparmaßnahmen gekürzt wurde. Überall in Dijon wird Weihnachtsbeleuchtung aufgehängt und der Weihnachtsmarkt eröffnet. Und auf einmal freue ich mich nach diesen drei Monaten des Aufs und Abs richtig auf Zuhause!

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