#Ausland | Studieren inmitten einer Revolution

03.11.2019
Studium, Internationales
Gastbeitrag: Alina Hanss

Der Libanon steht unter Strom: Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren gegen Misswirtschaft und Korruption. Über mein Auslandssemester, in dem Lehrende die Seminare auf die Straße verlegen.

Es ist vier Uhr nachmittags auf Beiruts Hauptplatz in der Innenstadt, dem Riad El-Solh. Hundertausende Menschen sind unterwegs. V.a. junge Leute, aber auch Familien mit Kindern sind an diesem Tag auf der Straße. Essensstände sind aufgebaut, einige haben Stühle und ihre Shisha dabei. Die Menschen tanzen und singen, die Menge ist euphorisch und bester Laune. Im Hintergrund hört man den Ruf des Muezzins, der zum Gebet einlädt. Er wird von dem einstimmigen Ruf der Massen nach "ثورة" (thawra, Arabisch für "Revolution") übertönt.

Das Land am Mittelmeer befindet sich im Umbruch. Die Hauptstadt Beirut ist nicht der einzige Ort im Libanon, der seit fast einer Woche mehr einer großen Party gleicht. Vom Norden bis in den Süden, von den Küstenstädten bis zu den hochgelegenen Bergdörfern – doch die Lage ist ernst. Das Land hat nach Venezuela weltweit eine der höchsten Schuldenquoten. Eine Woche zuvor hatte die Regierung eine Steuer von 0,20 Dollar pro Tag auf WhatsApp-Anrufe angekündigt, um das große Loch in der Staatskasse auch nur ansatzweise schließen zu können. Das war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Binnen kürzester Zeit organisierten sich spontane Proteste, die sich in der Nacht auch in Form von brennenden Autoreifen und Ausschreitungen zwischen Demonstrierenden und Polizei entluden.

Die angekündigte Steuer wurde wieder zurückgenommen, aber die Leute blieben auf der Straße. Besonders die junge Generation hat genug von einem politischen System, in dem die Parteien direkt mit Konfessionen verknüpft sind. Der Libanon ist von einer religiösen Diversität geprägt, die allein 18 offizielle Religionen kennt. Im Parlament gibt es festgelegte Quoten, um die proportionale Verteilung von Vertreter:innen der christlichen, sunnitischen, schiitischen und drusischen Parteien sicherzustellen. Auch die Besetzung des Ministerpräsidenten- und Präsidentenamtes nach Religionszugehörigkeit ist gesetzlich geregelt. Das politische System ist starr und auf Eliten ausgerichtet, die oftmals nur ihre eigene religiöse Gruppe im Blick haben und das Gemeinwohl ignorieren. Im multikonfessionellen libanesischen Staat hat sich lange nichts getan, denn genau diese politischen Eliten, die seit dem Bürgerkriegsende 1990 an der Macht sind, sind ebenfalls eng mit der Wirtschaft und dem Bankensystem verbunden.

Der aktuellen Regierung wird v.a. Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Aber auch auf individueller Ebene herrscht Frust: Täglich fällt der Strom für mehrere Stunden aus, die Müllentsorgung ist nicht sichergestellt und der Zugang zu sauberem Wasser gefährdet. Besonders in Beirut ist die Luft verschmutzt, denn die Straßen sind ohne ein funktionierendes ÖPNV-Netz täglich durch Autos verstopft. Und dann ist da noch die drohende Inflation, die die Leute auf die Straßen gehen lässt.

Welche Rolle spielt die junge Generation?

Ich bin seit August hier, aktuell ist Halbzeit. Mein Auslandssemester verbringe ich an der American University of Beirut, deren hohe Studienkosten ich mir nur durch ein Stipendium leisten kann. Durch libanesische Freund:innen habe ich immer wieder erfahren, dass sich an das teure Studium oft die Angst vor Arbeitslosigkeit anschließt. Diese Perspektivlosigkeit in Verbindung mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit für eine ganze Gesellschaft prägt die Proteste der jungen Generation. Elissa, eine 23-Jährige Kommilitonin, sagt, dass sie genug habe vom "klientelistischen, konfessionellen und patriarchalischen System, das die Armen weiter verarmen lässt und die Reichen reicher macht".

Für die Zukunft des Libanons wünsche sie sich schnellstmögliche Neuwahlen. In der Zwischenzeit sollen v.a. Expert:innen und Wissenschaftler:innen die Führung übernehmen. Mit dieser Forderung ist sie nicht allein: Viele junge Leute, die die letzten Tage auf dem Riad El-Solh stehen und nach einer Revolution rufen, fordern den Rücktritt der gesamten Regierung um Ministerpräsident Saad El Hariri. Weiter müsse man effektiv gegen Korruption vorgehen und volle Transparenz und Offenlegung von Geldströmen zwischen Banken und hochrangingen Politiker:innen vorantreiben.

Ahmad, ein 24-Jähriger Kommilitone, sieht v.a. in der endgültigen Trennung von Religion und Staat die Lösung. Was einst als faire Lösung zur Beendigung der Konflikte zwischen den Religionsgruppen um politische Macht etabliert wurde, führe laut Ahmad zu gesellschaftlichen Spaltungen und festgefahrenen Strukturen, die man nur durch eine Revolution aufbrechen könne.

Dafür gehen beide zusammen mit Tausenden auf die Straße und die Uni unterstützt sie dabei: Seit Beginn der Proteste ist sie geschlossen – zuerst aus Sicherheitsbedenken, dann um Solidarität mit den Protesten auszudrücken. Man möchte Studierenden und Lehrenden die Teilnahme ermöglichen. Ich bin seit Beginn auf den Straßen, um meine libanesischen Freund:innen zu unterstützen. Auch nach knapp einer Woche ist die Mobilisierung enorm, sodass man sich am darauffolgenden Morgen immer wieder zum gemeinsamen Aufräumen der Straßen verabredet. Eine Gruppe von Lehrenden am Fachbereich Arts & Sciences hat uns Studierenden in einem Schreiben mitgeteilt, dass in Anbetracht der Umstände jede Rückkehr zur normalen Routine an der Universität für sie aktuell einer politischen Niederlage gleichkäme.

Während dieser Tage organisieren die Lehrenden gemeinsame Proteste und Seminare für alle auf der Straße zur Rolle des Kapitalismus in den aktuellen Ereignissen. Leerstehende Gebäude werden genutzt, um öffentliche Lesungen anzubieten und einen Raum für Debatten zu bieten. Man diskutiert über die existierende soziale Ordnung, tauscht sich über Erlebtes aus und entwickelt Ideen, wie ein gerechterer Libanon aussehen kann. Das Land erlebt nicht nur eine Revolution auf den Straßen, sondern auch in den Köpfen.

Was bleibt?

Ministerpräsident Hariri hat Reformen angekündigt, die u.a. die Privatisierung der Telekommunikation und die Reduzierung von Diäten beinhalten. Ist das die Lösung? Elissa und Ahmad sind sich einig, dass dadurch rein gar nichts passieren wird. Vielmehr machen sie darauf aufmerksam, dass sich v.a. die junge Generation nicht mit Reformen zufriedengeben wird. Denn obwohl die Proteste den Anschein erwecken, dass gute Laune und Partystimmung überwiegen, steht mehr dahinter: Elissa und Ahmad fordern gerade jetzt, dass die Proteste weitergehen. Und ich werde wieder dabei sein, wenn sich die Menschen auf dem Riad El-Solh treffen, um lautstark "thawra" zu rufen. Denn die Lehrenden des Fachbereichs bekunden zurecht: "The streets are a classroom and the classroom is on the streets ".

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