Mittlerweile sind über fünf Monate seit dem Beginn der Proteste am 17. Oktober im Libanon vergangen. Das bedeutet aber nicht, dass sich die politische oder wirtschaftliche Lage im Land verbessert hat oder man sich mit unbedeutsamen Reformen zufriedengibt. Die Proteste sind während meines Auslandssemesters an der American University of Beirut in der Hauptstadt des Libanons von Oktober bis Ende Dezember entfacht. In dieser Zeit habe ich miterlebt, in welchem Konflikt zwischen Uni und Revolution sich meine libanesischen Kommiliton:innen nun befinden.
Jahrelange Misswirtschaft und Korruption, unfähige Regierungen und hohe Schulden lassen die Menschen im Libanon auf die Straßen gehen. Hinzu kommt, dass durch Privatisierungswellen und die neoliberale Öffnung des Landes am Mittelmeer Bildung und Gesundheit unbezahlbar sind. "Wir haben es satt, dass in diesem Land nichts funktioniert", sagt Tracy, eine 24-jährige Kommilitonin. Junge Menschen stehen nach ihrem Studium vor einem Schuldenberg und gleichzeitig drohender Arbeitslosigkeit. Eine geplante Steuer auf WhatsApp-Anrufe hatte Mitte Oktober dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen gebracht. Über Nacht entluden sich Wut und Perspektivlosigkeit in teilweise gewalttätigen Protesten, die Polizei und Militär mit Tränengas und Gummigeschossen beantworteten.
Doch das ist nicht das Bild, das mir in Erinnerung bleiben wird. Lehrende und Studierende organisierten gemeinsam Proteste und Seminare auf der Straße, die wenigen Parks der Stadt werden für öffentliche Lesungen und Diskussionen genutzt. Zu Beginn der Proteste war die Uni für mehrere Wochen geschlossen, auch wegen anhaltenden Sicherheitsbedenken. Aus diesem Grund entschloss man sich seitens der Universitätsverwaltung dazu, das Wintersemester, das ursprünglich bis Anfang Dezember gehen sollte, bis Ende Dezember zu verlängern. Kurse wurden verlegt, Abgaben verschoben und teilweise der komplette Semesterplan überarbeitet und gekürzt.
Auch wenn der Stress am Ende des Semesters nicht abnahm, kann ich aus meiner Perspektive sagen, dass die Uni alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um den Studierenden und Lehrenden das Semesterende so angenehm wie möglich zu gestalten. Das beinhaltete auch, dass Fehlstunden für die Teilnahme an Protesten nicht notiert wurden.
Viele meiner libanesischen Freund:innen fanden es nicht richtig, im Unterricht zu sein, anstatt auf der Straße für ihr Rechte einzustehen. Wie ist es möglich, jetzt im Seminarraum zu sitzen, wenn draußen der Sturz der Regierung gefordert wird? Wie kann das Semester unter diesen Umständen weitergeführt werden? Und wie soll man sich auf das weitere Studium konzentrieren, wenn gerade jetzt über die eigene Zukunft und die des Landes entschieden wird? "Wenn wir jetzt zu Normalität zurückkehren, ist das eine Art Konterrevolution. Ja sogar vielmehr – als ob nie etwas passiert wäre. Die ganze Arbeit der letzten Wochen, all das wäre umsonst. Ein ganzes Land hat sich mobilisiert. Das darf nicht ohne Konsequenzen bleiben“, sagt Tracy.
Sie sei hoffnungslos, fühle aber auch zum ersten Mal eine Art Identifikation mit dem Libanon – ihrem Heimatland, von dem sie sich in den letzten Jahren immer weiter entfernt habe. Nicht umsonst spielen viele Absolvent:innen mit dem Gedanken, ihre berufliche Karriere im Ausland zu verfolgen. Während der Demonstrationen fühle sich Tracy "in der Masse zuhause", wenn sie mit ihren Freund:innen die libanesische Flagge in die Luft hält und in die Rufe nach Gerechtigkeit miteinstimmt. Die rot-weiße Fahne mit der grünen Zeder im Zentrum ist zum Symbol geworden, unter dem sich Menschen aus allen Landesteilen und allen Bevölkerungsschichten vereinen.
In beiden meiner politikwissenschaftlichen Kurse diskutierten wir fortan das tagesaktuelle Geschehen in der Politik und auf den Straßen, untersuchten Ursachen und erarbeiteten ein fundiertes Hintergrundwissen der Situation. Wenn die Uni kurzfristig wieder geschlossen war, verlegte meine Professorin das Seminar ohne Weiteres auf die Straße zum Märtyrerplatz neben der großen Moschee, der seit Beginn der zentrale Treffpunkt der Proteste ist. Nach dem Seminar gingen wir als Kurs gemeinsam mit unserer Professorin zu den Demonstrationen. Zum Thema unserer Seminararbeit wurde die Rolle der aktiven und engagierten libanesischen Frauen bei den Protesten. Vermutlich hatte ich aber auch Glück mit meiner Professorin, die den offensichtlichen Konflikt zwischen Unialltag und Protest erkannt hat. Von Kommiliton:innen habe ich Gegenteiliges erfahren: nicht alle Lehrenden sind diesen Schritt gegangen und haben stattdessen ihre Seminare nach drei Wochen geschlossener Uni weitergeführt, ohne den Semesterplan zu kürzen oder die Geschehnisse auch nur mit einem Wort zu thematisieren.
Bis vor kurzem fanden weiterhin täglich Demonstrationen statt. Die politische Lage hat sich kaum verändert, denn seit Wochen gibt es kein Vorankommen. Auch die neue Regierung mit den gleichen Personen schweigt zu den Forderungen der Demonstrierenden. Die Uni läuft theoretisch wieder im Normalbetrieb. Aber auch Corona hat das Land am Mittelmeer erreicht, dessen Folgen das wirtschaftlich schwer angeschlagene Land ohne funktionierendes Gesundheitssystem voll treffen werden. Die Proteste gehen stattdessen im Netz weiter.
Mitte Dezember ging es für mich dann wieder nach Hause. Ich habe den Libanon in einer schwierigen und spürbar angespannten Situation verlassen, in der neben einer politischen Krise auch ein wirtschaftlicher Zusammenbruch kurz bevorsteht. Die Preise sind angestiegen, während gleichzeitig das libanesische Pfund immer weiter an Wert verliert. Gehälter können nicht ausgezahlt werden, die Mieten sind nicht bezahlbar und die Banken schließen ihre Geldautomaten, weil kaum noch Geld im Umlauf ist. Noch im Dezember hatte ich mein restliches ausländliches Geld zu einem recht guten Wechselkurs getauscht und mich kurz über den nicht zu rechtfertigenden Gewinn gefreut, den ich aus der Wirtschaftskrise ziehen konnte. Auf der anderen Seite können einige ihre Rechnungen nicht mehr zahlen und stehen kurz vor der Obdachlosigkeit. Ich bin definitiv mit gemischten Gefühlen abgereist und habe nicht selten meine Rolle vor Ort reflektiert.
Wenn sich die Umstände nicht bald verbessern, ist nicht auszuschließen, dass die anfangs friedlichen Proteste in gewaltvolle Ausschreitungen umschlagen können. Das ist schon teilweise zu beobachten. Wie dann der Unialltag gestaltet werden kann, ohne den Geschehnissen auf der Straße Rechnung zu tragen, ist schwer zu sagen und treibt auch meine Kommiliton:innen um. Mein Mitbewohner war wegen seiner Teilnahme an den Protesten über Nacht im Gefängnis, Freund:innen berichten fast täglich von Polizeigewalt gegen Presse und Demonstrierende. Der Ton ist spürbar rauer geworden.
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