Vor meinem Auslandssemester wurde mir immer wieder von Erasmus-Veteran:innen fast schon auf religiöse Weise vorgetragen: "Genieß die Zeit. Sie geht blitzschnell vorbei." Tja, so wie es aussieht, werde ich in einigen Wochen wohl ebenfalls dieses Mantra gegenüber zukünftigen Erasmus-Studierenden wiederholen, denn tatsächlich bin ich völlig verblüfft, wie schnell das Semester vorüber geht. Erst gestern bin ich doch losgeflogen, oder?
Zwar habe ich nicht gespürt, wie blitzschnell die Zeit vergeht, genossen habe ich dieses Semester jedoch mit jeder Pore. Und das tue ich auch immer noch. Einen Monat habe ich schließlich noch übrig und ich habe vor, auch diesen für tolle Erfahrungen zu nutzen. Aber erstmal möchte ich einen Blick auf meine bisherigen Erlebnisse werfen!
In der Universität geht es nicht unähnlich wie in Deutschland zu. Die Kursanmeldungen finden online statt und schon kann der Spaß beginnen; vorausgesetzt natürlich, man wird für seine Wunschkurse zugelassen. Das sah zu Beginn etwas zweifelhaft aus. Denn bis auf einen Kurs bin ich überall auf der Warteliste gelandet. Nach anfänglicher Panik (ja, ich habe einige aufgeregte Mails geschrieben, an jeden, der mich retten hätte können) kam ich nach und nach doch in fast all meine Wunschkurse herein. Diese konnte man in der ersten Woche zudem noch ändern, falls sie einem doch nicht zusagten oder man sich übernommen hatte.
Sehr gut gefällt mir an den gewählten Kursen, dass sie sowohl gut zu den in Mainz angebotenen Seminaren und Vorlesungen passen als auch diese komplementieren. In meinem Publizistikstudium hätte ich beispielsweise im nächsten Semester mehrere Veranstaltungen zum Thema "Medienwirkungsforschung & öffentliche Meinung" besuchen müssen. Stattdessen konnte ich hier in Prag die Kurse "Campaigns & Propaganda" und "Media and the Children" belegen.
Dank ähnlicher Inhalte kann ich mir die beiden Kurse nicht nur in Mainz anrechnen lassen, sondern auch bereits Gelerntes weiter vertiefen. Gleichzeitig habe ich auch Veranstaltungen gewählt, die in meinem Studienfach an der JGU nicht angeboten werden, wie zum Beispiel "Introduction to Photo Journalism" oder "Intercultural Communication Management". Ich fand es sehr spannend, durch diese Kurse über den Mainzer Publizistik-Horizont etwas hinauszublicken und neue Perspektiven einzunehmen.
Insgesamt sind die von mir gewählten Kurse recht interaktiv gestaltet. So machen wir in einem aus 60 Personen bestehenden Seminar regelmäßig Gruppenarbeiten sowie Rollenspiele. Dieser Plan kam mir zu Beginn etwas utopisch vor; wie sollte in so einem großen Kurs so viel Interaktion und Teamwork bitteschön funktionieren, ohne das völliges Chaos ausbricht? Nun, es hat auch nicht ganz ohne Chaos funktioniert.
Nicht nur einmal sollten wir uns beispielsweise selbstständig in gleichgroße Gruppen einteilen (Wann hat sowas schon mal funktioniert?) und anschließend ein Rollenspiel vorbereiten. Dabei waren wir jedoch alle im selben Raum und ich konnte dank des Lärmpegels nicht mal meine eigenen Gedanken richtig hören. Überraschenderweise funktioniert dieser interaktive Unterricht im Großen und Ganzen aber recht gut. Trotz gelegentlichem Durcheinander wird die interkulturelle Kommunikation, um die es in diesem Kurs geht, durch die vielen Gruppenarbeiten und den ständigen interkulturellen Austausch sehr intuitiv und lustig vermittelt.
Anders als in Mainz gibt es in Prag keinen Campus, stattdessen sind die Uni-Gebäude über die ganze Stadt verteilt. Zu meinem Glück, und vor allem meinen schlechten Orientierungssinn kaschierend, finden meine Kurse alle im selben Gebäude statt. An diesem hat mich zunächst gewundert, dass es hier abgesehen von einem kleinen Café und der Bibliothek kaum Räume gibt, in denen die Studierenden arbeiten oder auch eine Pause machen können. Man sollte meinen, dass die Plätze in der doch recht überschaubaren Bib aus diesem Grund heiß begehrt wären. Dem ist jedoch nicht so.
Oft muss ich an die überfüllte GFG-Bibliothek zurückdenken, in der jeder, der einen Platz ergattern konnte, sich glücklich schätzen sollte. Aus diesem Grund kann ich überhaupt nicht verstehen, weshalb dieses Phänomen hier nicht aufzutreten scheint. Ein weiterer essentieller Unterschied zur JGU: Die Universität (oder zumindest mein Uni-Gebäude) schließt um 19 Uhr und hat am Wochenende komplett geschlossen. Für jemanden wie mich, der gerne abends produktiv wird und aus ablenkungsvermeidenden Gründen am liebsten in der Uni arbeitet, war das natürlich eine Hiobsbotschaft. Plötzlich weiß ich die gütigen Öffnungszeiten des GFGs bis spät in die Nacht noch viel mehr zu schätzen. Im Endeffekt hat sich das Bib-Problem bei mir so gelöst, dass ich entweder in einer öffentlichen Bibliothek oder, all den Ablenkungen ausgesetzt, zu Hause gelernt habe.
Eine weitere Überraschung war, dass es keine richtige Mensa in meinem Uni-Gebäude gibt, sondern nur ein kleines Café im Innenhof. Angeboten werden neben verschiedenen Kaffee-Variationen, die recht günstig sind, ebenso preiswerte Snacks wie Sandwiches oder Kuchen sowie zur Mittagszeit eine Suppe. Diese wechselt zwar täglich und schmeckt mir auch ziemlich gut, auf Dauer ist sie aber trotzdem recht eintönig. Will man etwas Abwechslung zur Suppe, kann man zum Mittagsessen einfach zu anderen Fakultätsgebäuden der Universität gehen. In dem Hauptgebäude der Faculty of Arts, gibt es zum Beispiel eine große, günstige und vor allem leckere Auswahl an Gerichten, wobei es immer mindestens eine vegetarische Variante gibt.
Nach all der Zeit, die ich mittlerweile in Tschechien verbracht habe, fielen mir natürlich ein paar kulturelle Unterschiede zu Deutschland auf. So ist hier gespielte Höflichkeit definitiv fehl am Platz. Wenn man auf ein Höflichkeitslächeln Wert legt, so wird man bitterlich enttäuscht werden. Denn anders als die Deutschen sehen die Tschech:innen keinen Grund für so ein Theater. Rempelst du in der Bahn also jemanden an und schenkst ihm ein entschuldigendes Lächeln, stößt du meist auf Granit. Das heißt, sie lächeln nicht nur nicht zurück, sondern gucken auch recht genervt. Ein Augenrollen ist da keine Seltenheit. Insgesamt mögen es die Tschech:innen auch nicht, wenn in einer recht leisen Bahn telefoniert wird. Bestrafung findet durch vielsagende, entnervte Blicke statt.
Was ich aus Deutschland mal abgesehen vom GFG und meinem Hund am meisten vermisse, sind definitiv die deutschen Bäckereien. Was würde ich nicht alles für ein belegtes Brötchen oder ein Schokocroissant geben? Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch in Tschechien kulinarische Spezialitäten, an die ich mich durchaus gewöhnen könnte. So findet sich hier, wirklich ohne jede Übertreibung, an jeder Straßenecke Trdelník-Stände. Dabei handelt es sich um rein rollenförmiges, süßes Gebäck, das man entweder nur mit Zucker bestreut, mit Nutella bestrichen oder mit Eiscreme gefüllt genießen kann. Fun-Fact am Rande: Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um eine tschechische Spezialität, sondern um ein traditionelles Gericht aus der Slowakei.
Ein weiteres beliebtes böhmisches Gericht ist Svíčková, welches aus Rindfilet und tschechischen Mehlknödeln besteht. Mir hat es sehr gut geschmeckt, wobei die weißbrotartige Konsistenz der Knödel mich zunächst überraschte, da ich an die deutschen Semmelknödel gewohnt bin. Außerdem finden die Tschech:innen, ebenso wie die Deutschen, dass ihr Bier das Beste der Welt sei. Wer diesen Wettstreit gewinnt, ist stark umstritten; was in Prag jedoch auffällt, ist der günstige Bierpreis. In vielen Lokalen ist es sogar preiswerter als Wasser.
Eines der schönsten Erlebnisse in Prag war für mich das 30. Jubiläum der Samtenen Revolution. Am 17. November 2019 wurde diese mit vielfältigen Veranstaltungen und Feiern in der ganzen Stadt gefeiert. An diesem Tag vor 30 Jahren fanden sich Studierende für eine Demonstration zusammen, um an die Schließung der Universitäten durch die Nazis 1939 und die damals erfolgte Ermordung des tschechischen Studenten Jan Opletal zu gedenken. Die gewaltsame Beendung der Demonstration durch die Polizei führte jedoch zur Auflehnung der Studierenden gegen die Regierung, was schließlich die Revolution einleitete.
Beim 30-jährigen Jubiläum dieser Revolution sind zahlreiche Menschen inklusive mir den Weg der originalen Demonstration nachgegangen. Dort mitzugehen und die Emotionen der Einheimischen zu spüren, hat einen sehr nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen. Denn mir wurde erneut klar, genauso wie beim Jubiläum des Mauerfalls eine knappe Woche zuvor, dass diese gefühlte Stabilität von Freiheit und das Genießen so vieler Rechte keinesfalls selbstverständlich sind.
Um die Stimmung wieder etwas aufzulockern und um beim Mauerfall zu bleiben, komme ich nun zum Thema des Reisens. Denn in meinem Auslandssemester bin ich so viel gereist wie noch nie zuvor. Die zentraleuropäische Lage der Tschechischen Republik vereinfacht das erheblich. So war ich, wie schon angedeutet, am 9. November in Berlin, um das Mauerfalljubiläum zu feiern. Ich war auch in Wien, was mit dem Bus in vier bis fünf Stunden zu erreichen ist. Von da aus habe ich außerdem einen schnellen Hüpfer nach Bratislava gemacht, welches nur eine Stunde mit dem Zug entfernt von Wien liegt. Auch einen Trip nach Italien habe ich gemacht, auch wenn dieses zugegebenermaßen nicht wirklich in der Nähe Tschechiens liegt. Und eine letzte Reise nach Budapest und das Besuchen einiger tschechischer Städte steht noch an.
Kurz gesagt, bin ich in diesem Semester wirklich viel mit meinen neuen internationalen Freunden gereist und ich bin froh, dass ich es getan habe. Denn vor allem mit einer internationalen Reisegruppe habe ich die Orte, die wir besucht haben, aus verschieden kulturellen Perspektiven betrachten können. Und wenn nicht im Auslandsemester, wann sonst sollte man was von der Welt zu sehen bekommen? Also nutzt die Chance, in eurem Auslandsaufenthalt sowohl euer Gastland als auch die Welt an sich etwas besser kennenzulernen!
P.S.: Meine Tschechisch-Kenntnisse haben sich in meiner Zeit hier nur mäßig gebessert. Immerhin das Essen in einem Restaurant kann ich mittlerweile sehr stolz bestellen. Darüber hinausgehende Kenntnisse sind bei mir aber noch etwas, oder wenn wir ehrlich sind eher sehr, wacklig.
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