Dass die Zeit schnell verfliegt, war für mich noch nie so zutreffend wie in meinem ersten Semester in Frankreich. Und das nicht mal, weil ich es vor lauter Feierei kaum schaffe, klare Sätze zu verfassen. Während ich von Erasmus-erprobten Freunden für gewöhnlich hörte, dass sie die Uni eher als Nebenaktivität zwischen Party und aufregenden neuen Erfahrungen wahrnahmen, kämpfe ich damit, das Minimum der Erasmus-Studienanforderungen zu erfüllen. Das liegt zum einen daran, dass in Frankreich deutlich weniger Credit Points pro Veranstaltung vergeben werden (meist 4 ECTS). Dazu kommt noch, dass jedes einzelne Seminar Leistungen verlangt, die in Mainz eher ganze Module abschließen würden. Und schließlich findet die Schreiberei oder Projektbastelei während des laufenden Semesters statt, nicht etwa in den Ferien. Natürlich spielt sich mein Erasmusleben auch außerhalb des Campus ab. Aber in diesem Eintrag möchte ich vom Studieren in Paris erzählen, genauer an der Sorbonne Nouvelle, Paris 3.
Ein umfangreiches Werk, anders als im kleinen Film-Master in Mainz. Bevor ich mich nach Paris aufmachte, wusste ich wenig über meine Uni und wie der Alltag dort so sein würde. Aber die Kurse klangen – nach etwas Übersetzungsarbeit – verheißungsvoll! Da bieten also über 20 Dozenten im Master Cinéma Seminare an, die sich von Montagetheorie über Experimentalfilm hin zu Musikvideos mit allem beschäftigen, wovon ich als Mainzer Filmwissenschaftsstudentin träume. Auch jetzt, wo schon das zweite Semester begonnen hat, fällt mir die Wahl schwer. Schließlich hat man schon Lieblingsdozenten auserkoren und die post-Erasmus-drohende Masterarbeit ist konzeptuell noch so schwammig, dass alles irgendwie in Frage kommt.
In meinem Seminar zum psychedelischen Kino lernte ich das politische und künstlerische Umfeld von Hippie-Filmen kennen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Oder ein Titel wie "Gestes contemporains du montage" stellte sich als spannendes Seminar zu zeitgenössischer Videokunst heraus, in dem als Prüfungsleistung ein praktisches Projekt, eine eigene Videoinstallation auf Smartphones, in Gruppenarbeit realisiert wird. Doch bevor meine Projektpartnerin und ich unser fertiges Videokunstwerk bewundern konnten, musste ich mich an einige Dinge gewöhnen.
Die französische Uni ist in vielerlei Hinsicht schulischer – und versetzt mich mit ihren stickigen Kursräumen und dem Frontalunterricht allzu oft zurück ins Gymnasium. Schon nach kurzer Zeit auf dem Pariser Campus Censier lerne ich den Komfort – ja, tatsächlich! – der Mainzer Uni zu schätzen. Was waren das für Zeiten, als ich immer WLAN-Zugang hatte, mir einfach so im Philo oder GFG einen Arbeitsplatz suchen oder auf Jogustine Informationen zu meinem Studium einsehen konnte… Besonders nervig finde ich den Mangel an Sitzplätzen oder vielmehr einigermaßen gemütlichen Arbeitsplätzen in den Gebäuden der Sorbonne Nouvelle. Auch die französischen Zeiten lassen mich immer wieder stutzen: Ein Kurs von 12 Uhr bis 14 Uhr findet tatsächlich in einem Zeitraum von zwei Stunden statt, nicht etwa "c.t." Essenszeiten sind fest geregelt, Bürozeiten kurz und eher auf gut Glück wahrzunehmen. Wie oft habe ich auf meine Präsenzbib in Mainz geschimpft, jetzt sehe ich deren Sinn. Hier gibt es zwar eine gute Auswahl an filmwissenschaftlicher Literatur an der Uni – wenn die ein bis zwei Exemplare des Standardwerks, das also ca. 30 Studierende zum selben Zeitpunkt brauchen, allerdings schon bis nächsten Monat ausgeliehen sind, hat man Pech gehabt und muss auf die anderen Bibliotheken in Paris hoffen, was gerade bei neueren Publikationen meist ins Nichts führt. Mut zur Lücke also!
Seminare und Übungen gestalten sich meist nach dem Prinzip einer Vorlesung: Lausche den weisen Worten des Dozenten und schweig. Eine Diskussionsrunde, wie ich sie aus manchen deutschen Kursen kenne, ist hier undenkbar. Wenn dann doch mal eine Frage ans Plenum gestellt wird, scheint aus der vorsichtigen, fast ehrfürchtigen Antwort französischer Kommilitoninnen und Kommilitonen eine lang eingetrichterte Autoritätshörigkeit zu sprechen. Oder einfach nur ein anderes Level des Respekts, der Höflichkeit? Hier komme ich jedenfalls nicht dazu, viel Französisch zu sprechen – dafür kann ich mich vor Hörverständnis kaum retten. Ebenso vor Schriftfranzösisch… denn Hausarbeiten auf Englisch sind auch für Erasmus-Studierende keine Option.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass in Paris die Zeit ein wenig zurückgedreht wurde. Die Unterrichtsform und das ganze Drumherum fühlen sich manchmal so an, wie ich mir Uni in den 80ern vorstelle. Immer wieder kann ich mich auch darüber aufregen, wie geschlossen das System (allein sprachlich) gegenüber dem Rest der Welt ist – während ich es aus Deutschland seit dem ersten Bachelorsemester gewohnt bin, Filmliteratur auf Englisch zu lesen und damit zu arbeiten, trifft das Klischee der Franzosen, die ihre eigene Sprache über alles lieben, auch im akademischen Bereich zu. Masterstudierende (!) werden gelobt, wenn sie es schaffen, englischsprachige Literatur in ihren Hausarbeiten miteinzubeziehen (natürlich muss alles trotzdem übersetzt werden). Titel von Filmen und Fachpublikationen werden meist zuerst in französischer Übersetzung genannt. Einen großen Teil meiner Aufmerksamkeit verwende ich also darauf, herauszufinden, welche englischsprachigen Namen sich hinter den möglichst französisch ausgesprochenen Wortmysterien verbergen, die meine Dozenten nennen.
Für mich stellt sich das Gefühl ein, dass in Frankreich wenig Wille besteht, sich gegenüber internationaler Forschung zu öffnen. Die cinephilen Franzosen sind zurecht stolz auf ihre großen Beiträge zum Kino und zur Filmwissenschaft, aber damit scheinen sie sich selbst auch zu genügen.
Anders ist die Atmosphäre in den Kursen, die sich einzig an internationale Studierende richten. Neben dem hilfreichen Sprachkurs werden eigens für uns Methodologie- und Kulturkurse angeboten. Hier ist Interaktivität dann umso mehr erwünscht. Im neuen Semester habe ich z.B. "Cinéma français et philosophie" belegt, und freue mich darauf! Aber das soll die regulären Kurse nicht ganz schmälern. So sehr mich die Rahmenbedingungen manchmal abhalten, mich an dieser Uni wohlzufühlen, so cool sind meine Seminare thematisch. Die Lehrenden, die ich bisher kennenlernen konnte, sind wirkliche Experten auf ihrem Gebiet, die auf einem wissenschaftlich hohen Niveau äußerst leidenschaftlich dem Kino (und anderen audiovisuellen Formen) nachgehen. Ich will permanent mehr über die spannenden Dinge erfahren, die mir erzählt werden. Zum Ende meines Masters lerne ich noch so viel Neues, in das ich mich gerne kopfüber stürzen will.
Ein absolutes Highlight ist für mich auch die eigene Cinémathèque der Uni, die in zwei Vorstellungen pro Wochentag alte 16- und 35mm-Filme projiziert. Alles analog, für mich ein wahrgewordener Filmtraum. Darunter sind auch seltene Kopien von Filmen, um die sich viele Archive reißen würden. Das Programm wird im wöchentlichen Turnus zusammengestellt und dreht sich meist um eine Regisseurin, einen Regisseur, eine Schauspielerin, einen Schauspieler, oder das Kino eines Landes. Dazu schickt die Cinémathèque-Leiterin jedes Mal eine Mail mit dem liebevoll gestalteten Flyer, diese Woche zum Beispiel zum japanischen Kino mit Filmen von Nagisa Oshima, Yasujiro Ozu und Kenji Mizoguchi auf 35mm.
Kurzum: Was meine Uni in Sachen Film zu bieten hat, ist für mich neu und außergewöhnlich. Das geht so vielleicht nur in Paris.
Einige Schritte weg von der Uni in das umliegende fünfte Arrondissement reichen, um sich in schönerer Umgebung umzupositionieren. Das Café Curieux ist ein Schlupfloch für Sorbonne Nouvelle-Studierende. Der günstigste Café-Kaffee von Paris (ein Euro!), hausgemachter Kuchen und ein riesiger Pott Thé à la rose sind der Treibstoff für meine Sprachtandem-Treffen, um alleine mit dem Laptop zu arbeiten oder für schöpferische Uni-Pausen mit Kommilitonen.
Die Mensa, die in ganz Paris zentral über das Studierendenwerk Crous organisiert ist, bietet zwar ein unschlagbar günstiges, aber eher mittelmäßiges Essen. Vegetarische Hauptmahlzeiten sind hier zudem noch etwas eher Sonderbares, was den bobos (= bourgeois-bohème, etwa die Pariser Vorform des Hipsters) im 9ème und 10ème vorbehalten bleibt. Dann doch lieber ein Stückchen weiter zum Crèpestand beim Jardin des Plantes. Die unberechenbaren Öffnungszeiten der Inhaberin machen die Galette mit Chèvre (Ziegenkäse) und Schnittlauch umso begehrenswerter. Und wenn der Unialltag nicht wie so oft im Pariser Regen versinkt, wird ein sonniger Platz im Jardin gesucht. Auch die schöne Rue Mouffetard ist nicht weit und führt weiter Richtung klassisches Universitätsviertel, das Quartier Latin.
Schließlich ist der Unialltag in Paris für mich eine zweischneidige Sache: Einerseits ärgere ich mich über veraltete Strukturen und vermisse gewisse Annehmlichkeiten. Andererseits haut mich das Angebot um und ich bin als FiWi wirklich an einer tollen und einzigartigen Uni gelandet.
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