Mein Auslandsjahr in Paris neigt sich dem Ende zu. Die Kurse sind längst vorbei, die Noten eingetragen. Die meisten Menschen, die ich in meiner Erasmuszeit ins Herz geschlossen habe, sind schon wieder zurück in Barcelona, Prag, Bukarest oder Osaka – verstreut über den Globus. Auch der französische Kumpel hat Paris für den Sommerurlaub verlassen.
In Frankreich hat man zwar wenig Pause zwischen den Semestern, dafür aber endlose Sommerferien – also für mich noch mehr Zeit für Kultur. In meinen vorherigen Blogeinträgen ging es ums Ankommen in der Großstadt und das französische Uni-Chaos. Im letzten Teil der Trilogie widme ich mich Paris als Kinostadt. Denn in Wirklichkeit sind die Gründe hinter meinem "akademisch" motivierten Aufenthalt meine Suchtstillung nach pain au chocolat aux amandes (alleine wenn ich das schreibe, fließt mir das Wasser im Mund zusammen) und allem voran: Filmen. Vermutlich verbrachte ich mehr Zeit im wohligen Dunkel heiliger Lichtspielstätten als sonst irgendwo in dieser Stadt.
Als Filmnerd in Paris steht man tagtäglich vor einer Herausforderung bei der Abendplanung: In der Cinémathèque française wird eine Retrospektive zu Ehren der belgischen Regisseurin Chantal Akerman eröffnet. Wollte ich schon immer mal mehr von sehen, ihre Kamerafrau wird außerdem eine Einführung geben. Im unieigenen Kino laufen La Baie des Anges auf 35mm und ein schwedischer Stummfilm, der noch auf irgendeiner Kanon-Liste steht, auf 16mm. In der Bibliothek bei Les Halles sind militante Filme im Rahmen des Mai-1968-Jubiläums zu sehen. Im Quartier Latin laufen Filme, die gerade in Cannes Premiere hatten, ein afrikanisches Doku-Filmfestival, ein Cinéclub-Treffen zu einem aktuellen kurdischen Film, Hawks und Mizoguchi. Das Programm großer Kinos schaue ich mir gar nicht erst an, das macht die Entscheidung nur noch schwieriger. Meine Wahl fällt – wie so oft, da Passinhaberin – auf die Cinémathèque. Dort sehe ich den kleinen, unscheinbar auf DIN A 5 ausgedruckten Flyer des Kollektivs Braquage herumliegen. Sie veranstalten zur selben Zeit einen ihrer Kurzfilmabende, bei denen man meist 16mm-Kopien internationaler Experimentalfilme zu einem Thema (diesmal "die Masse im Film") mit Rahmenprogramm in Wohnzimmeratmosphäre in einem versteckten Hinterhof im 20. Arrondissement sehen kann. Ich ärgere mich, dass ich das verpasse und gebe mich mit Toute une nuit von Akerman zufrieden.
Mein Film-Snobismus hat mittlerweile solche Dimensionen angenommen, dass Gedanken wie dieser nicht selten sind: "Agnès Varda sprechen zu hören wäre schon echt toll, aber dazu werde ich wahrscheinlich eher noch einmal Gelegenheit haben, als dass ich diese seltenen Pierre-Clementì-Filme analog projiziert sehen kann." Was das Schauen synchronisierter Filme betrifft, haben mich sieben Jahre Filmwissenschaft schon wählerisch gemacht, aber nach Paris kann ich es endgültig nicht mehr ertragen (es sei denn, es handelt sich um eine kratzig-grünstichige 80er-Jahre-Kopie von Terminator auf Französisch, ich sage nur: "Je reviendrai.")
Wieviele Kinosäle Paris beherbergt, weiß ich nicht. Manchmal scheinen die Leuchtschilder, die magisch "Cinéma" verkünden, plötzlich erst in versteckten Winkeln hervorzublitzen. Und dann gibt es Straßen wie die schmale Rue Champollion im 6. Arrondissement nicht weit von den alten Gebäuden der Sorbonne: Wenn man von der breiten Rue des Écoles heraufschreitet, stößt man zuerst auf das retro-mäßige Eckkino Le Champo, als nächstes kommt das Reflet Medicis und schließlich die Filmothèque du Quartier Latin, mit ihren beiden Sälen Audrey (innen in blau gehalten) und Marilyn (rot). Auf einem Straßenabschnitt von ca. 30 Metern bieten diese drei Kinos Klassiker und aktuelle Filme aus dem Arthouse-Bereich, dem Hollywood der 40er oder dem Japan der 60er.
Die politique des auteurs, also das Begreifen von Regisseurin und Regisseur als den künstlerischen Schöpfern ihres filmischen Werks, die François Truffaut und die Schreiber der Cahiers du cinémas in den 60er Jahren populär gemacht haben, ist in Frankreich nach wie vor beliebt. Das erklärt auch, wieso Filmreihen meist im Namen eines auteur stattfinden und in diesen und anderen Kinos dann Ernst Lubitsch, Billy Wilder, Rainer Werner Fassbinder oder Wim Wenders angesagt sind.
Filmwissenschaftlerinnen und Filmwissenschaftlern oder ansonsten irgendwie filmgeschichtlich interessierten Studis, die überlegen, mit Erasmus nach Paris zu gehen, kann ich nicht nur wärmstens dazu raten, nein, ich will sie regelrecht dazu zwingen. Tut es! Ich wage sogar, die Behauptung aufzustellen, dass ihr in Europa nirgendwo sonst so einfach so viel über Film lernen könnt (außer vielleicht in Bologna, Italien). Während Film auf Film in Deutschland so gut wie ausgestorben ist bzw. gut gekühlt in Archiven ruht, kommt in Paris vielerorts noch der analoge Projektor zum Einsatz. Zusätzlich zu (Vor-)Premieren aktueller Filme oder neuer digitaler Restaurierungen, oft in Anwesenheit von Filmschaffenden, kann man sich vor Retrospektiven, selbst bei den großen Ketten MK2, UGC, Gaumont oder Pathé kaum retten. Fast überall gibt es günstige Zehnerkarten, Monats- oder Jahresabos, was das Ganze auch für Studierende erschwinglich macht.
Und ich habe nicht mal damit begonnen, die unzähligen aktuell erscheinenden Filmmagazine zu lesen oder den Filmclubs beizutreten. Die Wertschätzung des Kinos, als der 7ème art oder einfach nur als alltägliche Unterhaltung, ist allgegenwärtig. So findet man sich auch in Matinée-Vorstellungen, also gegen zwölf Uhr mittags, in vollen Kinosälen. Etwa im Cinéma Christine 21 nahe der Seine sitzen dann Filminteressierte, die zum Beispiel unbedingt noch mal diesen einen Kriminalfilm sehen wollen, der sie vor dreißig Jahren so begeistert hat. Oder sie sind zufällig gerade vorbeiflaniert. Sie setzen sich zehn Minuten vor Filmbeginn hin, um einen guten mittigen Platz zu haben, und blättern in ihrer Zeitung oder einem Roman, bevor es losgeht. Kino ist ernst, Kino ist heilig. Vermutlich wird es – neben den hier geschlossenen Freundschaften – auch das sein, was mir bei der Rückkehr nach Deutschland am meisten fehlen wird.
Dazu kommt schließlich die Magie einer Stadt, die selbst so unendlich oft in Filmen abgebildet wurde. Und die gewissermaßen aussieht, als wäre sie immer bereit, gefilmt zu werden, mit ihren bildhübschen Cafés und Squares, die zwischen den sandsteinfarbenen alten Fassaden hervorragen. Beim Beschreiten der engen Bürgersteige fühle ich mich wie in einem filmischen Universum. Mal absurd-chaotisch wie bei Tati, mal emotional-verwirrt wie bei Rohmer, dessen Filme – da fühle ich mit Dirk von Lowtzow - maßgeblich zu meinem Verständnis menschlicher Beziehungen UND der französischen Sprache beitrugen.
Ich muss also zurückkommen nach Paris. Ob für länger oder einfach immer wieder mal kurz, ist noch unklar. Aber dieses Jahr war erst der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
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