Wegen des sogenannten Blindgängers müssen 10.000 Mainzer:innen im Umkreis von 500 Metern um die Paul-Denis-Straße bis Donnerstag, 4. Juli 2024, um 9 Uhr ihre Wohnungen verlassen haben. Zumindest diejenigen, die sich nicht bereits vorher auf den Weg zur Arbeit gemacht haben und zurückkehren, wenn die Entschärfung gelungen und der Spuk damit ein Ende hat. Manche Anwohner:innen, die nicht im direkten Umkreis leben, erfahren vielleicht erst im Nachgang davon oder womöglich gar nicht. Denn die Entschärfung dieser Blindgänger ist praktisch Routine in deutschen Städten, meistens ziehen solche Funde nur die Lokalmedien an. Die Evakuierungsaktion hat in diesem Fall jedoch einen besonderen Charakter: Die Bombe liegt praktisch vor der Haustür des zentralen Funkhauses des SWR und auch das Stellwerk des Mainzer Hauptbahnhofs liegt im Evakuierungsradius, was zu erheblichen Behinderungen im ÖPNV führen dürfte. Auch das Wohnheim Wallstraße des Mainzer Studierendenwerks ist davon betroffen.
Noch nachdenklicher macht der Fundort der Bombe: Der Mainzer Judensand ist Teil-Monument des UNESCO-Welterbe SchUM-Stätten und mit ältester jüdischer Friedhof Europas. Die Bauarbeiten, die dort aktuell stattfinden, haben das Ziel, ein Besucherzentrum zu errichten und den Friedhof „behutsam für eine nachhaltige touristische Nutzung“ umzugestalten, so heißt es auf der Webseite der Stadt Mainz. Das Besucherzentrum soll künftig „einen sensiblen, denkmalgerechten und halachischen – den jüdischen Gesetzen entsprechenden – Umgang mit dem Friedhof” ermöglichen und „die Geschichte des Alten Jüdischen Friedhofs und seine Bedeutung als einer der ältesten jüdischen Friedhöfe des Mittelalters in Mitteleuropa“ erklären.
Rund 5000 dieser Kampfmittelaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg werden jährlich in Deutschland entschärft, das sind knapp 14 pro Tag. Der Fundort dieses Blindgängers reißt ihn jedoch aus dieser Alltäglichkeit heraus. Er erinnert ganz besonders unmissverständlich an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, das die Auslöschung europäischer Jüdinnen und Juden zum Ziel hatte. Die Nazi-Ideologie drohte nicht nur die deutsche, sondern auch einen großen Teil der europäischen Bevölkerung in den Abgrund zu reißen und hatte dies zu einem zerstörerischen Teil bereits erreicht, als der Krieg 1945 endete.
An dieses Kapitel erinnert jeder Blindgänger in deutschem und europäischem Boden. Sie erinnern an die Zerstörung und das Leid, das von Nationalismus getriebene Kriege anrichten und an die Opfer, die sie auch heute fordern. Sie erinnern an die zerstörerische Kraft, die ihr Sprengstoff vor fast 80 Jahren nicht entfaltet hat, der aber bis heute knapp unter der Oberfläche schlummert, über die wir täglich die Gänge unseres Lebens machen. Und sie erinnern daran, dass sie an Sprengkraft nichts verloren haben.
Der einzige Unterschied ist, dass diese Bombe nicht am Tag ihres Fundes abgeworfen wurde und zur Explosion gebracht werden sollte. Heute wurde sie in einem friedlichen Wohngebiet gefunden, bei Bauarbeiten für ein weltoffenes Besucherzentrum, das das Erbe der SchUM-Städte für das moderne Judentum ehrt. Der Fund löst eine ernstzunehmende, aber routinierte Evakuierungsaktion aus, denn die Behörden sind verpflichtet, die Bevölkerung vor der Gefahr zu schützen. Sie haben die Pflicht, den Zünder ausfindig zu machen, ihn mit chirurgischer Präzision zu entfernen, den Sprengstoff unschädlich zu machen und so buchstäblich die Bombe des Nationalismus zu entschärfen. Passender könnte die Metapher vor dem Hintergrund dessen, dass nationalistische Parteien in ganz Europa bei den Wahlen zum Europaparlament am 9. Juni wieder Erfolge gefeiert haben, nicht sein – nicht aber in Mainz! Jeder Blindgänger ist eine Mahnung, den Sprengstoff an die Oberfläche zu bringen, statt ihn darunter schlummern zu lassen. Wenn jeder von uns 14 Blindgänger am Tag entschärft – ernst, aber routiniert –, verlieren sie bald all ihre Sprengkraft.
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