"Vorher war ich nur wütend, jetzt kann ich selbst etwas dagegen tun."

06.12.2019
Studium, Jobs...
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Kellnern oder kassieren? Nein, danke. Annika Heinze will neben der Uni Wissen weitergeben. Darum führt sie in einer KZ-Gedenkstätte Interessierte durch die repressiven Anfänge des Nationalsozialismus.

Gemeinsam mit dutzenden Pendler:innen steigen Annika Heinze und ihr Kollege um kurz vor acht Uhr morgens in den Zug nach Osthofen. Während Weinberge und Weizenfelder im Sonnenaufgang vorbeiziehen, bereiten sich die beiden mit eng beschriebenen Karteikarten und dicken Infomappen auf ihre Schicht als Guides in der KZ-Gedenkstätte in Osthofen vor.

Sie reden über die Einzelschicksale der Häftlinge und über die Gruppe, die sie später betreuen werden: eine zehnte Klasse aus einer Realschule in der Region. Bei etwa einer Schicht in der Woche hat sich für Annika mittlerweile eine Routine etabliert – und doch geht es um ein einmaliges Thema der deutschen Geschichte: die Bekämpfung des politischen Widerstandes in der Zeit des Nationalsozialismus.

Kritische Blicke auf Krisenzeiten

Im ehemaligen Konzentrationslager Osthofen wurden von März 1933 bis Juli 1934 insgesamt ca. 3000 Häftlinge für jeweils etwa zwei bis vier Wochen eingesperrt. Viele ehemalige Häftlinge wurden weiter verfolgt, in andere Lager gebracht oder ermordet. Die meisten von ihnen waren Anhänger:innen von SPD und KPD, die sich gegen das NS-Regime stellten. Gestorben ist im Konzentrationslager in Osthofen zwar niemand, die Häftlinge wurden dort jedoch schikaniert und misshandelt.

Nach außen drang keine dieser Gräueltaten, stattdessen verhalf staatliche Propaganda dem Konzentrationslager zum Ruf einer "Besserungsanstalt". Annika ermutigt ihre Besuchergruppe deshalb gleich zu Beginn, dieses Image zu hinterfragen. Gemeinsam entlarven sie gestellte und bearbeitete Bilder und regimeverherrlichende Tendenzen in vermeintlich neutralen Artikeln, die Annika ausgesucht hat. Das Wissen an Jüngere zu vermitteln und sie dabei aktiv und individuell einzubinden, findet die Masterstudentin besonders wichtig: "Darum geht es ja auch gewissermaßen, dass wir die Leute da abholen, wo sie sind, und sie nicht drei Stunden einfach nur mit Infos zuschütten."

Nach einer ersten geschichtlichen Einführung zeigt Annika ihrer Gruppe das Gelände. Ihre Erzählungen lassen dabei in einer dunklen und kalten Halle die Vergangenheit wiederaufleben, erlauben einen Blick in den Alltag der Häftlinge, der von Schmutz, Schikanen und Strafen des Wachpersonals geprägt war. Während vor der Außenmauer alle Augen auf sie gerichtet sind, beschreibt Annika kleine Lichtblicke, wie den Austausch mit der Bäckerstochter am Zaun des Konzentrationslagers. Aber auch dramatische Fluchtversuche, die nicht immer erfolgreich verliefen, kommen zur Sprache. Dabei nimmt sie sich Zeit für die Fragen der Schüler:innen und bindet auch aktuelle Ereignisse wie die Umbettung des verstorbenen spanischen Diktators Franco ein.

Nach der Erkundung des Außengeländes hat die Klasse die Chance, sich selbstständig in einer Ausstellung im ersten Stock der Gedenkstätte über weitere Hintergründe des Nationalsozialismus und der Häftlinge im Osthofener Konzentrationslager zu informieren. Auch diese Phase leitet Annika ein, erklärt den Aufbau der Ausstellung und ermuntert zur detaillierten Auseinandersetzung mit den Exponaten: "Wenn ihr irgendwas seht, was man aufziehen oder aufklappen kann, tut das gerne."

Die KZ-Gedenkstätte in Osthofen bietet neben solchen Ausstellungen, kostenlosen Ferienworkshops, Projekttagen, Fortbildungen und Unterrichtsmaterialien auch Arbeitsaufträge für die Besuchergruppen an, damit sie sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Annikas Gruppe hat schon im Vorfeld solche Aufgaben bekommen: Die Schüler:innen schreiben im Laufe des Tages mit, fragen viel, sind interessiert – sowohl an der Vergangenheit des Lagers, als auch an Annika selbst. Über diese Neugier und das Engagement der Gruppe freut sich die Masterstudentin besonders.

Vorgeschichten und Zukunftsvisionen

"Ich fand Gedenkstätten immer schon interessant", erzählt Annika, die zunächst Literaturwissenschaft im Bachelor studierte und zurzeit ihren Master in Englisch an der JGU Mainz absolviert. Bei beiden Abschlussprüfungen liegen ihre thematischen Schwerpunkte auf Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg.

Viele ihrer Kolleg:innen kamen über das Geschichtsstudium zur Gedenkstätte in Osthofen, andere studieren Theologie, Politik- oder Rechtswissenschaften. Annika selbst hat durch ein Praktikum im Archiv einer Gedenkstätte bei Hamburg schon vorher viele Erfahrungen gesammelt. "Das sind nette und offene Leute, niemand trägt die Nase hoch", schwärmt sie von der Arbeitsatmosphäre in solchen Dokumentationszentren.

Für Annika ist bereits jetzt klar, dass sie sich auch nach dem Studium gerne weiter mit Gedenkstätten, Museen und Kultur beschäftigen möchte, weil sie diese Arbeit nach wie vor sehr wichtig und interessant findet. Der Job als Guide ist für sie damit schon "ein Fuß in der Tür".

Individualität, Interaktion und Interesse im Fokus

Bei der Gedenkstätte Osthofen hatte sich Annika ursprünglich auf eine Stelle im Aufsichtsdienst beworben. Da diese allerdings schon besetzt war, wurde ihr stattdessen der Job als Guide angeboten. Dort sah sie sich zunächst von Mitte Juni bis Mitte September 2019 sechs Führungen anderer Guides an und machte sich mit der Geschichte des Geländes vertraut.

Bei den etwa dreistündigen Führungen, die auch auf Englisch und Französisch angeboten werden, arbeiten die Betreuer:innen jeweils mit eigenen Präsentationen und setzen individuelle Akzente: "Wir erzählen zwar alle grob das Gleiche, aber manche machen drinnen im Raum eine längere Einführung, manche machen den Außenrundgang länger."

Martina Ruppert-Kelly, die den Pädagogischen Dienst der Gedenkstätte leitet, betont ebenfalls die Authentizität und den eigenen Stil der Gruppenbetreuer:innen. Trotzdem ist gegenseitige Inspiration und Hilfe willkommen: "Teamarbeit wird bei uns großgeschrieben", so Ruppert-Kelly. Sie schätzt die Arbeit mit Studierenden auch deshalb, weil sie einen guten Zugang zu den Schul- und Jugendgruppen finden würden, was sich Ruppert-Kelly u.a. mit dem geringen Altersunterschied erklärt.

Einerseits seien zwar die zeitlich beschränkten Arbeitsverhältnisse von meist nur zwei bis drei Jahren ein Nachteil, da viele Studierende nach ihrem Abschluss nicht in der Gedenkstätte bleiben würden. Andererseits lobt Ruppert-Kelly die meist hohe fachliche Qualifikation und Motivation der Studierenden: "Motivation und Interesse ist wichtig, Fakten und Hintergrundwissen kann man sich anlesen."

Dass persönliche Begeisterung im Mittelpunkt steht, meint auch Christina Hendrich, die ebenfalls im Pädagogischen Dienst der Gedenkstätte tätig ist: "Man muss eine Leidenschaft für das Thema und den Umgang mit Menschen haben."

"Wehret den Anfängen"

Eine weitere Chance dieses Ortes sehen sowohl Annika als auch Christina Hendrich darin, dass hier der Beginn des Nationalsozialismus im Zentrum steht, als v.a. der politische Widerstand bekämpft wurde. Dieses Kapitel gehe, so Hendrich, in anderen Kontexten oft unter. Dass der Holocaust nicht mit Auschwitz begonnen habe, werde im Osthofener Konzentrationslager besonders deutlich, sagt Annika. Sowohl das Wachpersonal als auch dessen Praktiken wurden im Laufe der Geschichte von dort aus weiterentwickelt: "Das hier war das Reagenzglas und das wurde ins Perfide perfektioniert", erklärt Annika.

Aber auch aktuelle Entwicklungen bekommen die Mitarbeiter:innen zu spüren: Seit die AfD an politischer Präsenz gewinnt, kommen laut Christina Hendrich immer mehr Besuchergruppen in die Gedenkstätte: "Die Beschäftigung und die Bedeutung, die diesem Ort zugemessen wird im Hinblick auf den politischen Hintergrund, ist stärker geworden."

In einer Gegenwart, in der manche derer Vertreter:innen und Sympathisanten die Gräueltaten des Nationalsozialismus verharmlosen und gar leugnen, will Annika ihre Plattform nutzen, um solche Aussagen mit ihren Erzählungen zu entkräften: "Vorher war ich nur wütend, jetzt kann ich selbst etwas dagegen tun."

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